Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
entschuldigen sich bei der Dame für diese Beleidigung, und zwar sofort.«
Der Kellner Alfons, der Begleiter von Herrn Ratkofski und Igraine stürzten herbei und rissen an seinem Jackett, aber Otto hielt den Mann in einem eisernen Griff fest, bis er einen roten Kopf bekam und tatsächlich ein »’tschuldigung« hauchte.
»Wenn mir noch einmal zu Ohren kommen sollte, dass Sie sie belästigen, vergesse ich meine gute Kinderstube und bringe Ihnen Manieren bei. Haben Sie das verstanden?«, sagte Otto und ließ Herrn Ratkofski los. Er steckte dem Kellner eine Banknote zu, die ein großzügiges Trinkgeld enthielt, und nahm Igraines Samtumhang von der Garderobe. Unter den Blicken der anderen Gäste verließen sie das Lokal.
»Das wird ein Nachspiel haben«, rief Herr Ratkofski und rieb sich den Hals. »Ich kenne Herren in den höchsten Ämtern. Machen Sie sich auf was gefasst.«
»Mein Name ist Dr. Otto Sanftleben«, rief Otto zurück. »Nur damit Sie es wissen.«
Draußen legte er Igraine den schwarzen Samtumhang über und reichte ihr die Tasche.
»Was hat er gemeint?«, fragte sie ängstlich.
»Mach dir darüber keine Gedanken. Ich kenne Kerle seines Schlags. Er wird sich gewaltig echauffieren und in Erfahrung bringen, dass ich genauso viele hochrangige Persönlichkeiten kenne wie er und für die Preußische Polizei tätig bin. Irgendwann wird er zu dem Schluss kommen, dass unnötiges Aufsehen in dieser Affäre für ihn nicht förderlich ist. Es hat genügend Zeugen gegeben, die seine Beleidigungen mitbekommen haben. Wenn er dich das nächste Mal sieht, wird er dich zurückhaltend grüßen. Und wenn nicht, sagst du mir Bescheid.«
»Es tut mir so leid, dass du eine solche Szene miterleben musstest«, sagte Igraine. »Ich konnte nicht ahnen, dass er heute Abend im Kosthaus sein würde.«
»Ist schon gut«, versicherte Otto. »Es tut mir leid, dass ich so heftig reagiert habe. Wenn sich grobe Kerle gegenüber jungen Damen danebenbenehmen, sehe ich manchmal rot.«
Während der Droschkenfahrt setzte Igraine noch einmal an, ein Gespräch anzufangen, aber Otto merkte schnell, dass sie der Vorfall immer noch beschäftigte. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn er Kunstwerke schaffen würde, die nicht wegen ihrer Qualität gekauft wurden, sondern weil sich der Erwerber gewisse Gegenleistungen versprach. Kein schöner Gedanke!
Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und ihr seine Schulter zum Anlehnen angeboten. Dann hätte sie spüren können, dass sie nicht alleine war, aber er wollte die Situation nicht ausnutzen. Während er ihr Profil betrachtete, kam ihm ein verrückter Gedanke. War Igraine eine Frau, die man heiraten könnte? Wie würde es sein, mit ihr zu leben? Langweilig würde es ganz sicher nicht werden, aber sie waren sehr unterschiedlich. Würden sie auch glücklich sein? Im Moment wusste er nur, dass er sich stark zu ihr hingezogen fühlte und sie wiedersehen wollte. Alles Weitere würde sich zeigen.
Vom Spittelmarkt bogen sie in die Leipziger Straße ein, die sich zu einer Haupteinkaufsstraße entwickelt hatte und durch elektrische Bogenlampen erhellt wurde. Nacheinander passierten sie das Palais Hardenberg, in dem der preußische Landtag seine Sitzungen abhielt, das Concerthaus, das General-Postamt und das Kriegsministerium. Nach der großen Tageshitze hatten sich die Temperaturen auf ein angenehmes Maß abgekühlt, und viele Flaneure stolzierten über die Bürgersteige. Sie schwangen die Spazierstöcke und schauten den jungen Damen nach. Vom Potsdamer Platz bogen sie in die Potsdamer Straße ab.
»Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte sie, »aber kannst du kurz mit hochkommen? Ich würde mich sicherer fühlen, wenn du nach dem Rechten schauen würdest.«
»Wieso?«, fragte Otto. »Ist etwas passiert? Wirst du bedroht?«
»Komm einfach mit«, sagte Igraine.
Als die Droschke in der Kurfürstenstraße hielt, bat Otto den Kutscher zu warten und ging mit ihr in das muffige Treppenhaus. Die Holzstufen waren ausgetreten und ächzten bei jedem Schritt. Als er die Hand auf das Geländer legte, gab es knarrend nach. Aus einer Wohnung drang Säuglingsgeschrei.
Igraines Wohnung enthielt das Nötigste und war unordentlich. Otto war über die ärmlichen Verhältnisse erstaunt, wusste er doch, dass ihr Vater ein beträchtliches Vermögen besaß und als honoriger Mann galt. Vermutlich wollte sie finanziell unabhängig sein und nahm keine Unterstützungen an.
Nacheinander
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