Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Einschätzung könnte im Rahmen der Ermittlung von Bedeutung sein. Deshalb möchte ich Sie bitten, ganz unverblümt zu sprechen.«
»Also gut. Der Beginn seiner Schädelvermessungen und meine zeichnerischen Studien begannen ungefähr zur gleichen Zeit. Wenn Sie wollen, sehe ich den Termin gerne nach. Wir begegneten uns also fast täglich bei der Kolonial-Ausstellung. Von Anfang an suchte er meine Nähe, und zwar auf eine Art, die ich als unangenehm empfunden habe.«
»Wurde er zudringlich?«
»Nein, eher das Gegenteil. Er war übertrieben freundlich und zuvorkommend, fast möchte ich sagen liebedienerisch und untertänig.«
»Was heißt das konkret?«
»Er brachte mir die teuersten Speisen von den internationalen Restaurants mit. In jeden seiner Sätze flocht er ein ›Danke‹, ein ›Bitte‹ oder ein ›gnädiges Fräulein‹ ein. Wenn ich ihn streng anschaute, zuckte er zusammen, als hätte ich ihn gezüchtigt. Dabei hatte ich das Gefühl, dass er es genau darauf anlegte.«
»Auf was?«
»Na, dass ich ihn schlecht behandle. Ich weiß, das hört sich abwegig an.«
»Glauben Sie mir, meine Liebe. In meiner beruflichen Laufbahn habe ich gelernt, nichts für abwegig zu halten, was Menschen und ihre Vorlieben angeht. Warum haben Sie den Professor in Ihrer Nähe geduldet, wenn er Ihnen so unangenehm war?«
»Meine Klientel besteht fast ausschließlich aus Männern. Davon beträgt sich die Hälfte ungebührend. Wenn ich jeden von ihnen zurechtweisen würde, würde ich schon bald nichts mehr verkaufen. In den vergangenen Jahren habe ich gelernt, freundlich distanziert zu bleiben, auch wenn es nicht leichtfällt. Das ist wohl der Preis meiner Unabhängigkeit.«
»Ich möchte Sie kurz an meinen Überlegungen teilhaben lassen. Sie kannten beide Opfer. Außerdem haben Sie dem Hereroprinzen, dem der erste Mord angehängt werden sollte, ein Alibi verschafft. Es ist möglich, dass Sie eine Rolle spielen oder Ihnen eine Rolle zugedacht wurde, die sich mir noch nicht erschließt. Wo waren Sie in der Nacht vom neunten auf den zehnten Juni?«
»Warum fragen Sie mich das? In der Nacht des ersten Mordes war Wilhelm Maharero bei mir. Schließt mich das nicht als Täterin aus?«
»Es gibt gewisse Indizien, die es möglich erscheinen lassen, dass zwei Täter die Morde verübt haben könnten.«
»Ich verstehe, aber Sie liegen mit Ihrem Verdacht falsch. In jener Nacht war ich im Haus meiner Eltern am Wannsee. Dafür gibt es Zeugen.«
»Ich brauche einen Namen.«
»Die Haushälterin meiner Eltern, Frau Trude Scheuren.«
»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie beispielsweise einen Mann in Uniform bemerkt, der sich sonderbar benahm?«
Igraine legte eine Hand auf eine der Marmorsäulen, die dem Tanzsaal zusammen mit der gewölbten Decke und den zahlreichen Stuckornamenten etwas sehr Majestätisches verlieh. Es hatte fast den Anschein, als würde sie Halt suchen. »Sie sind der Erste, dem ich das sage. Vor einigen Tagen ist ein Unbekannter in meine Wohnung eingedrungen und hat … er hat … er hat sich an meiner Unterwäsche vergangen. Außerdem hatte ich in letzter Zeit häufiger das Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Sie müssen wissen, dass bei uns im Hinterhof hohe Bäume stehen, in die man hineinklettern kann. Ich weiß, das klingt vermutlich abstrus.«
»Keineswegs, meine Liebe. Ich frage mich nur, wie wir angemessen auf diese Vorkommnisse reagieren können. Möchten Sie, dass ich einen Polizisten abstelle, der Sie rund um die Uhr beschützt?«
»Das wird nicht nötig sein. Heute Abend fahre ich an den Wannsee zu meinen Eltern und werde dort gut aufgehoben sein. Nächste Woche habe ich Urlaub und werde ihn auf dem Gut Neukladow verbringen, um etwas Abstand von der Ausstellungseröffnung und dem Presserummel zu bekommen. Kaum jemand weiß, dass ich dort sein werde. Falls sich danach etwas ereignet, würde ich gerne auf Ihr Angebot zurückkommen.«
»Einverstanden. Eine Frage hätte ich noch, dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Können Sie sich vorstellen, dass der Einbruch in Ihre Wohnung und die beiden Morde an den Juden zusammenhängen?«
»Wie das?«
»Ich weiß es nicht. Das würde ich gerne von Ihnen erfahren.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
Nachdem sich der Commissarius für ihre Geduld bedankt hatte, verließen sie den Tanzsaal, durchquerten den Vorraum und gelangten in das Treppenhaus. An den Wänden hing eine Ahnengalerie. Sie stiegen die Stufen hinab und
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