Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
erreichten das Vestibül, wo sie sich voneinander verabschiedeten.
Eigentlich hatte der Commissarius geplant, auf direktem Weg zurück zum Polizeipräsidium zu gehen, aber er musste noch etwas erledigen. Er musste nachsehen, ob der Gerichtsarzt Dr. Gessken mittlerweile eingetroffen war. Er konnte nicht zulassen, dass eine Schwärmerei seine bürgerliche Existenz bedrohte. Er liebte seinen Beruf und wollte ihn noch lange ausüben. Er musste endlich Ordnung in sein Leben bringen, und anfangen wollte er mit ein paar richtungweisenden Worten.
Salon im Palais Redern
Otto hatte sich im Eingangsbereich aufgehalten und die Tür nicht aus den Augen gelassen. Er hatte beobachtet, wie Igraine in den Salon getreten war und sogleich von einer Schar von Bewunderern umringt worden war. Kurz darauf trat der Commissarius ein und wurde von einem geschmackvoll gekleideten Herrn in den mittleren Jahren begrüßt. Otto dachte sofort, dass Funke der Mann gewesen sein musste, mit dem Igraine ins Obergeschoss gegangen war. Sicher hatte der Commissarius noch einige Fragen gehabt, immerhin war sie eine Alibizeugin.
Als Igraine den Kopf zur Seite drehte und ihn in der Ecke stehen sah, zwängte sie sich durch ihre Bewunderer und deren verdrossen dreinblickende Ehegattinnen, um zu ihm zu eilen und nach seinen Händen zu greifen. »Es ist so schön, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass sich so viele Menschen zu meiner Ausstellungseröffnung einfinden würden. Ist das nicht phantastisch?«
»Ich freue mich sehr für dich«, erwiderte Otto und drückte ihre Hände. »Die Leute sind so zahlreich erschienen, weil sie um dein Talent wissen. Jetzt geh schnell zurück und genieß die Lobgesänge. Ich werde auch später noch da sein.«
»Um sechs Uhr schließt die Ausstellung. Wagen wir uns dann noch mal ins Kosthaus Schwarz?«
»Ich wollte dir gerade den gleichen Vorschlag machen«, erwiderte Otto. »Ich hab gestern Nacht von dem Möhrenschmarren geträumt, ich kann ihn einfach nicht mehr vergessen. Jetzt geh schon.«
»Danke«, sagte Igraine und sah ihn mit einem Blick an, in dem er echte Zuneigung las.
Als sie sich mit federnden Schritten entfernte und wieder von einer Traube von Bewunderern umringt wurde, fühlte er sich erhaben. Von den anwesenden Männern war er der einzige, zu dem Igraine aus freien Stücken gegangen war. Alle anderen Herren machten Komplimente, schmissen mit Bonmots um sich oder unternahmen anderweitige geistige oder körperliche Verrenkungen, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Er hatte nur in der Ecke stehen müssen, um mit einer überaus herzlichen Begrüßung und einem Rendezvous bedacht zu werden. Das sagte eigentlich alles aus.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte der Commissarius.
»Ich interessiere mich für Kunst«, erwiderte Otto etwas weitläufig.
»Oder bandeln Sie wieder mit den Zeuginnen an? Sie wissen, dass ein solches Verhalten unprofessionell ist und zu nichts Gutem führt. Ach, antworten Sie lieber nicht, Docteur . Mir ist gerade alles egal.«
»Wieso? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst erblickt.«
»Ich muss mit Ihnen reden, solange ich noch bei Verstand bin, aber hier kann ich nicht bleiben. Lassen Sie uns ins Café Bauer gehen. Da gibt es guten Cognac.«
Otto erklärte sein Einverständnis, woraufhin sie das Palais Redern verließen und in den Strom der Passanten eintauchten, die bei herrlichem Frühsommerwetter die Trottoirs der Paradestraße bevölkerten. Das Café Bauer lag einen halben Kilometer die Linden hinunter und genoss bei Berlinern wie bei Auswärtigen einen ausgezeichneten Ruf. Es war im verschwenderischen Stil der Belle Époque ausgestattet und hatte mehrere hundert fremdländische Tageszeitungen ausliegen. Die Preise waren hoch, wurden aber auch von weniger betuchten Gästen akzeptiert, um einmal in dem noblen Ambiente eine Kaiser-Melange zu schlürfen und hinterher den Verwandten davon berichten zu können.
Drinnen herrschte ein hektisches Treiben. Ober mit gezwirbelten Schnurrbärten, weißen Schürzen und voll beladenen Tabletts eilten durch die Tisch- und Stuhlreihen. Die Landessprachen der elegant gekleideten Gäste – Russisch, Englisch, Bulgarisch und Italienisch – vereinten sich zu einem Raunen, das durch das glockenhelle Lachen einer aufgedonnerten Offiziersmätresse untermalt wurde. Sie hatten großes Glück, dass sich ein vorbeihastender Kellner ihrer annahm und ihnen einen
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