Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
winzigen Bistrotisch zuwies, der an einem Fenster, das zur Friedrichstraße rausging, auch noch schön gelegen war.
»Ich nehme die Zuger Kirschtorte und einen großen Becher Kakao«, sagte Otto impulsiv und besann sich gerade noch rechtzeitig seiner neuen Ernährungsgrundsätze. »Herr Ober, warten Sie. Ich hab es mir anders überlegt. Ich nehme einen Fruchtsalat, aber bitte ohne Sahne, und einen Ceylontee, aber ohne Kandiszucker.«
»Und für mich einen doppelten Cognac«, sagte der Commissarius. »Am besten bringen Sie gleich zwei Doppelte.«
Obwohl das Café Bauer sehr gut besucht war, dauerte es nur wenige Minuten, bis ihre Bestellung auf dem Bistrotisch stand. Otto nippte an seinem Ceylontee, und der Commissarius stürzte den ersten Cognac hinunter.
»Sie sollten nicht so viel trinken«, sagte Otto.
»Es ist etwas in mir, das ich bezähmen muss«, erwiderte der Commissarius.
»Wissen Sie«, sagte Otto, »ich habe kürzlich in einem Buch über die harmonische Lebensweise gelesen. Einer der Grundsätze lautet, dass wir alles, was in uns ist, annehmen müssen, um wahren Frieden zu finden. Natürlich nur, solange wir nicht gegen geltendes Recht verstoßen.«
»Ha«, sagte der Commissarius und griff nach dem zweiten Cognac. »Dann trinke ich wohl besser noch einen. A votre santé! Ich habe das Gefühl, dass wir unserem Mörder allmählich auf die Pelle rücken. Ich muss wissen, woran ich ihn erkennen kann, wenn ich vor ihm stehe.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Otto.
»Nun, Sie sind nicht nur Kriminologe, sondern haben auch als Nervenarzt an der Charité praktiziert. Die Tötungsart legt nahe, dass der Täter nicht ganz normal im Oberstübchen ist. Wie verhält sich ein derart Wahnsinniger?«
»Ihnen ist vermutlich an einer eher allgemeinen Charakterisierung gelegen.«
»Genau«, sagte der Commissarius und wollte eine neue Bestellung aufgeben.
Otto griff ihm in den Arm und sagte: »Hören Sie, ich helfe Ihnen, aber nur, wenn Sie bis zum Abschluss der Ermittlungen in Maßen trinken. Sie hatten vorerst genug.«
Für einen Moment schien es so, als würde Funke die Beherrschung verlieren, aber dann war der Polizist in ihm doch stärker als der Trinker. »Wenn in Maßen nicht abstinent bedeutet, bin ich einverstanden.«
»Ich verlasse mich auf Ihr Wort. Ich habe kürzlich einen Artikel in der medizinischen Fachpresse gelesen, in dem der geistige und seelische Zustand eines Mannes beschrieben wird, der in einem Zeitraum von zwei Wochen fünf Jesuiten getötet hat. Der Mann war ein Melancholiker.«
»Ja, ich habe von dem Fall gehört, aber sind Melancholiker nicht eher antriebsschwach, apathisch und ihrem düsteren Brüten hingegeben?
»Das stimmt. Trotzdem verüben gerade Melancholiker häufig sehr schwere Gewalttaten. Professor von Krafft-Ebing , der berühmte Psychopathologe, hat ausgeführt, dass die plötzliche Aktivität des Melancholikers eine Reaktionserscheinung auf qualvolle Bewusstseinsvorgänge sei, wobei der hervorgerufene Affekt temporär die inneren Hemmungen zu überwinden vermöge.«
»Was können das für qualvolle Bewusstseinsvorgänge sein?«
»Das ist von Fall zu Fall mitunter sehr unterschiedlich. In Betracht kommen nach Professor von Krafft-Ebing dauerhafte Angstgefühle, Wahnvorstellungen oder körperliche Missempfindungen, Überraschungseffekte, schmerzliche Erinnerungen und Sinnestäuschungen. Man muss dabei berücksichtigen, dass selten ein Krankheitsbild isoliert auftritt. Der Jesuitenmörder war ein Melancholiker, der in seiner seelischen Erstarrung nach und nach die Wahnvorstellung entwickelte, dass die Jesuiten mit giftigen Gasen sein Gehirn verflüssigen wollten. Die eingebildete permanente Gefährdung zwang ihn irgendwann zum Gegenangriff. Als er seine Opfer tötete, war er der festen Überzeugung, dass er in Notwehr handelte.«
»Ich habe mich schon oft gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen dem Wahnsinnigen und dem Gesunden liegt.«
»Nun, das ist einfach. Der Kranke nimmt seine Umwelt unter den Eindrücken seines Wahns wahr. Sieht er einen Hund, so glaubt er, dass die Jesuiten ihn geschickt haben, um ihn zu beißen und ihm so das tödliche Gift zu verabreichen. Liest er in der Zeitung vom Wahlsieg eines liberalen Hoffnungsträgers, so ist er davon überzeugt, dass der Politiker in Wahrheit ein Jesuit ist, der den Reichstag mit Hilfe von Hypnosestrahlen zu seinem willenlosen Werkzeug machen will. Seine Wahrnehmung entspricht nicht der Wahrnehmung
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