Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
die Besucher, die sich leicht über die Absperrseile lehnten, um einen möglichst nahen Blick auf die Kunstwerke zu werfen. Es waren prominente Berliner anwesend wie der Schriftsteller Theodor Fontane, der nicht weit entfernt in der Potsdamer Straße wohnte, und die bekannten Maler Max Liebermann und Walter Leistikow, die der Vereinigung der XI angehörten, einer Künstlergruppe, die einmal jährlich im Kunstsalon Eduard Schulte ausstellte. Nur Igraine konnte er nirgends entdecken.
Otto mischte sich unter die Besucher und warf nur einen flüchtigen Blick auf die Zeichnungen, ohne sie recht würdigen zu können. Er ging in den nächsten Salon, dann in den übernächsten, bis er alle Ausstellungsräume und Schlupfwinkel abgesucht hatte, aber Igraine blieb verschwunden. Für einen Moment musste er an ihre Verehrer denken, die sich heute zahlreich einfinden würden, aber dann verdrängte er den Gedanken wieder. Sie hatte ihn nicht eingeladen, weil sie ihn für einen potenziellen Käufer hielt, sondern weil sie dieses Ereignis mit ihm teilen wollte. Das war zumindest sein Eindruck gewesen.
Er ging zurück ins Vestibül und fragte den Hausmeister der Malschule: »Können Sie mir sagen, wo ich Fräulein Raab finde? In den Salons habe ich sie vergeblich gesucht.«
Der Mann sah ihn mit seinen Eulenaugen an und erwiderte: »Haben Sie sich mittlerweile für eine Zeichnung entschieden?«
»Das würde ich ihr gerne selber sagen.«
»Fräulein Raab hat sich mit einem Herrn in die Räumlichkeiten im Obergeschoss begeben, aber es wird bestimmt nicht lange dauern.«
»Danke«, sagte Otto und fragte sich, was diese Auskunft zu bedeuten hatte. Für einen Moment keimte Misstrauen in ihm auf, aber es musste nicht zwangsläufig ein Verehrer sein, sondern es konnte genauso gut der Galerist sein, mit dem sie noch einige organisatorische Dinge zu klären hatte. Am besten ging er zurück in die Ausstellungsräume und widmete sich ihren Zeichnungen.
Sicher würde sie gleich zurückkehren.
Tanzsaal im Palais Redern
Der Commissarius hatte den ganzen gestrigen Abend an eine Bemerkung denken müssen, die bei dem Verhör von Professor von Trittin vor der Friedrich-Wilhelms-Universität gefallen war. Deshalb hatte er Igraine Raab bei der Ausstellungseröffnung aufgesucht und um eine kurze Unterredung gebeten. Der Hausherr war so freundlich gewesen, sie ins Obergeschoss zu führen, wo sie im Tanzsaal etwas Ruhe gefunden hatten.
»Wie ich kürzlich erfahren habe«, sagte Funke, »kannten Sie beide Mordopfer, sowohl den Zeitungsunternehmer Salomon Hirsch als auch den Bankier Frankfurter, persönlich. Wo haben Sie die Männer kennengelernt, und in welchem Verhältnis standen Sie zu ihnen? Entschuldigen Sie bitte, ich möchte nicht indiskret werden, aber ich muss das fragen.«
»Schon gut«, erwiderte Igraine. »Ich war neugierig auf unsere afrikanischen Landsleute und bin zur Kolonial-Ausstellung gefahren, um sie zu zeichnen. Bei den Eingeborenendörfern bin ich auf die beiden Herren getroffen, die sich für meine Körperstudien interessiert haben. Der Bankier Frankfurter hat mir zwei Zeichnungen abgekauft und einen Termin vereinbart, um sich porträtieren zu lassen. Mit Herrn Hirsch hatte ich weniger zu tun. Er hielt sich mehr im Hintergrund auf.«
»Ihr Kontakt war also rein beruflicher Natur«, sagte der Commissarius. »Ist Ihnen bei den Begegnungen etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben sich die Männer gestritten? Ist sonst irgendetwas passiert?«
»Tatsächlich haben sie sich mit einem Wissenschaftler gestritten, der bei den Afrikanern Schädelmessungen vorgenommen hat.«
»Sie meinen Professor Emil von Trittin?«
»Ja, genau. So lautet sein Name.«
»Bitte berichten Sie mir die näheren Umstände.«
»Nun, es hatte Schwierigkeiten mit den Hereros gegeben, und Professor von Trittin war wohl wütend. Als er Salomon Hirsch und den Bankier Frankfurter erblickte, sagte er etwas Boshaftes über die Rassenverwandtschaft von Negern und Juden, woraufhin sich ein heftiger Wortwechsel zwischen den Männern entwickelte, von dem ich allerdings nichts Näheres mitbekommen habe, weil er sich bei den Eingeborenenhütten zutrug.«
»Woher kennen Sie Professor von Trittin?«
»Ich habe ihn ebenfalls auf der Deutschen Kolonial-Ausstellung kennengelernt.«
»Was haben Sie für einen Eindruck von ihm?«
»Ich rede nur ungern schlecht über andere. Zählt er denn zu den Verdächtigen?«
»Ihre Einstellung ist lobenswert, aber Ihre
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