Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
Vom Netzwerk:
gesunder Menschen, sie weicht von der Realität ab, sie ist verrückt.«
    »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben wir es Ihrer Meinung nach wahrscheinlich mit einem Melancholiker zu tun, der in den Juden eine akute Gefahr sieht. Sprechen wir also über Verfolgungswahn?«
    »Das ist durchaus möglich.«
    »Wie äußert er sich?«
    »Da möchte ich wiederum auf meinen hochgeschätzten Kollegen Professor von Krafft-Ebing verweisen, der eine detaillierte Auflistung der Symptome gibt. Danach kommt die Umgebung dem Kranken anders und verdächtig vor. Er fühlt sich beobachtet, zurückgesetzt, man ist ihm nicht wohlgesonnen, man weicht ihm aus. Später bemerkt er, dass man auf ihn deutet, über ihn spöttelt, in der Predigt oder in der Zeitung über ihn stichelt. Der Kranke wird noch scheuer, reizbarer, misstrauischer, als er von jeher war, er zieht sich von der Außenwelt zurück. Der Kranke hört Stimmen, die ihn an Ehre und Leben bedrohen, die ihm geheime Pläne wahnhafter Verfolger enthüllen. Die Feinde erraten seine Gedanken, spionieren ihn aus.«
    »Also suchen wir nach einem verschlossenen, introvertierten Mann?«
    »Das ist schwer zu beantworten. Er wird mit Sicherheit temporär Symptome des Melancholikers aufweisen wie Apathie, Antriebsschwäche oder eine schleppende Sprechweise. Wenn er unter Verfolgungswahn leidet, wird er zuweilen misstrauisch und reizbar wirken. Aber wie ich schon gesagt habe, treten die Krankheitsbilder nur selten isoliert auf. Je komplexer eine Persönlichkeit und je höher sein Verstand entwickelt ist, desto schwieriger ist sein Verhalten zu deuten. Nehmen Sie nur Professor von Trittin als Beispiel.«
    »Was ist mit ihm? Er hat ein Alibi. Außerdem wirkt er auf mich nicht wie ein Melancholiker. Fangen Sie nicht wieder mit dem Mann an.«
    »Auf den ersten Blick wirkt er vielleicht nicht wie ein Melancholiker, aber wenn man genauer hinschaut, kann man Anzeichen für düstere Grübeleien, Selbsthadern und Selbstentleibungsphantasien entdecken. Er versteht es gut, seine Mitmenschen über sein wahres Empfinden zu blenden. Allerdings glaube ich nicht, dass er unter Verfolgungswahn wie der Jesuitenmörder leidet. Professor von Trittin leidet eher unter stark ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühlen.«
    »Der Professor? Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat doch alles.«
    »Er hat materiellen Besitz, akademische Titel und Segelpokale angehäuft, weil er sie dringender als andere Menschen braucht. Sie sind sein Schutzschild. Vermutlich steht er furchtbare Ängste aus, dass er als Dilettant entlarvt werden könnte. Deshalb muss er auch ständig seine germanischen Wurzeln und seine Zugehörigkeit zur rassischen Elite betonen. Gleichzeitig schreibt er den Juden alle schlechten Eigenschaften zu und erreicht dadurch eine Selbsterhöhung. Solange Juden, Neger, Asiaten und Andersdenkende weit unter ihm rangieren, thront er als Arier über ihnen. Er muss andere kleinmachen, um sein Minderwertigkeitsgefühl zu betäuben, das für ihn eine existenzielle Bedrohung darstellt.«
    »Wenn ich Sie so reden höre, frage ich mich, ob überhaupt noch irgendjemand gesund ist.«
    »Da können Sie ganz unbesorgt sein«, erwiderte Otto. »Mal abgesehen von Ihrer Trinkerei halte ich Sie für einen vernunftbegabten Menschen.«
    » Merci, pareillement! «, erwiderte der Commissarius. »Was glauben Sie, wo das alles enden wird?«
    »Er wird so lange töten, bis sein Plan vollendet ist. Die letzte Gewalttat eines wahnhaften Melancholikers richtet sich zumeist gegen sich selbst, weil er die eigene Schwere, die gefühlte Minderwertigkeit oder das eingebildete Verfolgtwerden nicht mehr ertragen kann. In Fachpublikationen wird häufiger beschrieben, dass sich Melancholiker durch ihre Taten in eine ausweglose Situation bugsieren, welche ihnen die Fortsetzung eines normalen Lebens unmöglich macht. Sie erreichen einen Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt. Am Ende bleibt ihnen nur noch die Selbstauslöschung. Und im Nachhinein stellt sich häufig raus, dass ihr eigener Tod das eigentliche Ziel ihrer ganzen Bemühungen war.«
    Die Worte klangen nach. Beide hingen ihren Überlegungen nach, bis der Commissarius sagte:
    »Vielen Dank, Herr Doktor. Ihre Einschätzung dürfte meinen Blick schärfen. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe das seltsame Gefühl, dass sich der Täter in unserer unmittelbaren Nähe aufhält, dass er uns beobachtet, dass er vielleicht sogar mit uns spricht. Wir müssen nur die Augen aufmachen

Weitere Kostenlose Bücher