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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Außerdem war Wilhelm Maharero die rechte Hand abgetrennt worden, was nicht Bestandteil des germanischen Rituals war. Der Commissarius hatte Otto gebeten, über die Bedeutung der Verstümmelung nachzudenken.
    Trennte man die Hand ab, überlegte er nun, so beschränkte man die Handlungsfähigkeit eines Menschen. Im Mittelalter wurde so verhindert, dass Diebe noch einmal fremdes Eigentum anfassen konnten, aber zwischen den Langfingern vergangener Zeiten und Wilhelm Maharero gab es einen entscheidenden Unterschied. Die Amputation war nach der Zufügung des Blutadlers vorgenommen worden. Nach Angaben des Gerichtsarztes war der Hereroprinz da bereits tot gewesen. Es handelte sich also nicht um eine Bestrafung, die einen erzieherischen Zweck verfolgte. Vielmehr war das Körperteil am Tatort nicht auffindbar gewesen. Vermutlich hatte der Täter es mitgenommen, weil er ihm eine bestimmte Bedeutung zumaß.
    Aus all diesen Umständen neigte Otto zu der Annahme, dass die Amputation einen symbolischen Charakter hatte. Möglicherweise hatte sich der Täter die Handlungsfähigkeit seines Opfers aneignen wollen. Möglicherweise sollte er ihm im Reich der Toten zu Diensten sein. Das war eine plausible Erklärung, die zu der mythologischen Gedankenwelt des Täters passte und die er dem Commissarius so mitteilen würde.
    In diesem Moment trat ein Jüngling an den gekennzeichneten Feldstein und bückte sich. Der Commissarius hatte Otto eingeschärft, sich nicht in Gefahr zu begeben und sich lediglich auf Beobachtungen zu beschränken, aber vor diesem Bengel musste er sich nun wirklich nicht in Acht nehmen. Mit einigen schnellen Schritten war er neben ihm und packte ihn am Schlafittchen.
    »So, Bürschchen, hab ich dich also«, sagte er und riss ihm das Couvert aus der Hand. »Ich will von dir wissen, wie du heißt, wo du wohnst und welchem Broterwerb du nachgehst. Und zwar ein bisschen hopp.«
    Der Jüngling sah verzweifelt auf und ließ einen Schwall unverständlicher Worte los. Kurz darauf wurden sie von einer Großfamilie – bestehend aus Kindern, einem dickleibigen Paar, den betagten Großeltern und mehreren Gouvernanten – eingekreist, die alle in einer fremdländischen Sprache auf ihn einredeten. Einer der greisen Männer trug eine Stegemann’sche Geheimkamera, auf die Otto auch schon ein Auge geworfen hatte. Und endlich begriff er, dass er nicht den Erpresser erwischt hatte, sondern einen arglosen Berlinbesucher, der sich vermutlich nur über das Couvert gewundert hatte.
    Während die Großfamilie weiter auf ihn einredete, reckte Otto den Hals in alle Richtungen und hielt Ausschau. Auf dem Spazierweg sah er einen Mann, der sich in einem schwarzen Kapuzenumhang schnell Richtung Norden bewegte. Otto lief quer über die Grünfläche, zwängte sich durch einige Büsche und nahm die Verfolgung auf.
    »He, Sie da«, rief er. »Stehen bleiben!«
    Ohne sich umzudrehen, rannte der Mann los. Er hetzte über den bevölkerten Alsenplatz, erreichte die Alsenbrücke und war plötzlich verschwunden. Otto hatte den Abstand kaum verkürzen können und hielt schnaufend am steinernen Geländer, von dem man einen guten Blick über den Humboldthafen hatte. Links und rechts führten Treppen zum Wilhelm- und Alexanderufer hinunter, an denen zahllose Lastkähne vertäut lagen. Ein kleineres Dampfboot wurde gerade gelöscht, und mehrere Arbeiter trugen Kisten zu den Lagerschuppen, aber nirgends konnte er den Verdächtigen entdecken. Neben ihm stand ein junges Ehepaar, das die Ellenbogen auf das Geländer stützte und dem emsigen Treiben zuschaute.
    »Haben Sie einen Mann in einem schwarzen Kapuzenumhang gesehen?«, fragte er.
    » Mólja? «
    Oh nein, ist das etwa Bulgarisch?, dachte Otto. »Haben … Sie … einen Mann … Was heißt denn bloß Mann auf Bulgarisch? War das nicht myzh oder mazh oder so ähnlich? Also: Haben Sie einen mazh gesehen?«
    »Mólja?«, erwiderte der junge Mann erneut und zog nun seine Frau zurate.
    Otto unternahm einen weiteren Verständigungsversuch, dann gab er es auf. Bis er den beiden begreiflich gemacht hatte, was er von ihnen wollte, war der Flüchtige längst verschwunden. Für einen Moment haderte er mit der Gewerbeausstellung, die dafür gesorgt hatte, dass er in seiner Heimatstadt niemanden mehr verstehen konnte. Dann besann er sich auf seine Pflichten als Gastgeber, reichte den beiden Bulgaren die Hand und wünschte ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.
    Er warf einen

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