Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
gewesen war.
Er trocknete sich gerade das Gesicht ab, als sich von hinten zwei Arme um seine Taille schlangen. Er hatte niemanden gehört und war dementsprechend überrascht.
»Bitte verzeih mir«, sagte Igraine und schmiegte ihr Gesicht an seinen Rücken. »Daniele Vicente interessiert mich nicht. Wenn ich ihn gewollt hätte, dann hätte ich ihn schon vor Wochen haben können. Bei der Kolonial-Ausstellung ist er ständig um mich herumgelaufen und hat mir zweideutige Komplimente gemacht. Männer wie er sind mir egal, das musst du mir glauben. Es ist nur, weil der gestrige Abend mit dir so schön war, und da hab ich Angst bekommen. Ich hab lange für meine Freiheit gekämpft. Endlich kann ich tun und lassen, was ich will. Ich muss vor niemandem Rechenschaft ablegen, ich muss mich vor niemandem verantworten. Natürlich bin ich manchmal einsam. Und ich weiß auch, dass sie hinter meinem Rücken über mich reden und mich für eine Kokotte halten, aber das ist mir egal, solange ich nur zeichnen kann. Ich kann das nicht aufgeben. Für nichts und niemanden. Wenn du mir schwörst, dass ich immer so viel Zeit zum Zeichnen haben werde, wie ich brauche, dann schwöre ich dir, dass ich mich nie wieder so abscheulich benehmen werde wie heute Abend.«
Otto befreite sich aus ihrer Umarmung, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr in die Augen. »Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist«, sagte er.
Königsplatz
Am Tag der Geldübergabe stand Otto am Sockel der Siegessäule und betrachtete ein Bronzerelief, das die Schlacht bei Königgrätz darstellte. Zahllose Menschen promenierten vorüber und erfreuten sich an den Wasserfontänen und den gepflegten Grünanlagen. Für fünfzig Pfennig bestiegen Schaulustige die Siegessäule und warfen in luftigen Höhen einen unvergesslichen Blick über die Dächer der Stadt. Der Erpresser hatte sich einen geeigneten Ort ausgesucht. Es herrschte genügend Publikumsverkehr, um bei Gefahr untertauchen zu können.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Otto, wie der Commissarius quer über den Königsplatz lief, dann über eine knöchelhohe Absperrung trat und sich ins Gras neben einen Feldstein hockte, der durch ein weißes Kreidekreuz gekennzeichnet war. Funke tat so, als würde er sich die Schnürsenkel zubinden. In Wahrheit deponierte er ein Couvert. Nachdem er sich wieder aufgerichtet und die Knie abgeklopft hatte, ging er in südöstliche Richtung davon und erreichte die Friedensallee, die ihn zum Brandenburger Tor führen würde.
Zwischen ihnen hatte es keinerlei Blickkontakt oder andere Verständigungen gegeben, sodass der Erpresser keinen Verdacht schöpfen konnte. Natürlich konnten sie nicht wissen, ob er aus dem Bekanntenkreis stammte. Deshalb hatten sie Otto im Fundus des Königlichen Schauspielhauses wie einen Zimmerergesellen ausstaffiert, der sich auf Wanderschaft befand. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen schwarzen Hut, von seinen Ohren baumelten Ohrringe, man hatte ihm einen Rauschebart angeklebt, und er trug die typische schwarze Zunftkleidung mit dem weißen kragenlosen Hemd. In dieser Aufmachung würde ihn garantiert niemand erkennen.
Während er den markierten Feldstein nicht aus den Augen ließ, musste er an Wilhelm Maharero denken. Sein Leichnam war in den frühen Morgenstunden im Tiergarten gefunden worden, und zwar an der gleichen Stelle, wo schon der Bankier Frankfurter getötet worden war. Der Hereroprinz war nicht nur ein Gast aus Afrika gewesen, sondern ein vielversprechender junger Mann, der ihn nachhaltig beeindruckt hatte. Er war bestürzt gewesen, als er von seinem sinnlosen Tod erfahren hatte, und er fragte sich, wie wohl Igraine die Nachricht verdauen würde.
Es war eine Tragödie, was Wilhelm Maharero in einem Kulturland wie dem Deutschen Reich widerfahren war. Sie waren es ihm schuldig, den Mörder zu fassen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Otto wollte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Das war alles, was er für den Hereroprinzen noch tun konnte.
Er vergegenwärtigte sich den bisherigen Erkenntnisstand. Wieder waren in der Nähe des Tatortes Wagen-, Schleif- und Schuhspuren sichergestellt worden. Wie bei dem Verleger Hirsch war der Tatort mit zahllosen Blutspritzern und Lachen bedeckt gewesen. Als ihm der Blutadler zugefügt wurde, hatte Wilhelm Maharero also noch gelebt. Dieses Mal war nur wenig Erbrochenes entdeckt worden. Möglicherweise hatte der Täter, aus Wissen um seinen schwachen Magen, darauf verzichtet, vorher
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