Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
letzten Blick über den Humboldthafen und stapfte schließlich zum Polizeipräsidium. Er ärgerte sich, dass ihm der Erpresser entwischt war, aber dann erinnerte er sich, dass in den frühen Morgenstunden der flüchtige Tierpfleger geschnappt worden war. Vielleicht würde ihnen dieser endlich die Identität des Mörders aufdecken können.
Wannsee
Bei strahlendem Sonnenschein nahm Igraine in dem winzigen Dampfboot »L’Oiseau Mouche« Platz. Das Wasservehikel hatte zwei kurze Sitzreihen, einen kupfergrünen Schornstein und wurde von Herrn Knospe geführt, der sich vortrefflich auf die Bedienung der Maschine verstand. Der Eigentümer des Guts Neukladow, Robert Guthmann, hatte das Dampfboot angeschafft, weil sich die Landaueranfahrten über die Fähre bei Sakrow als zu zeitaufwendig erwiesen hatten. Und so kam auch Igraine in den Genuss einer eigens für sie arrangierten Überfahrt zum Gut Neukladow, wo sie für ihre Freundin Else, die Tochter Guthmanns, einhüten würde. Der Kapitän, Herr Knospe, ließ das Horn tuten, der Schornstein spuckte ein Rauchwölkchen aus, und die »L’Oiseau Mouche« nahm stampfend Fahrt auf.
Nach den anstrengenden Ausstellungsvorbereitungen freute sich Igraine auf die Urlaubswoche, in der sie sich selbst ein Zeitungsverbot erteilt hatte, um sich nicht von einer respektlosen Kritik die Laune verderben zu lassen. Eigentlich musste sie keine Angst vor schlechter Presse haben. Dazu waren bereits zu viele Bilder verkauft worden. Sie hatte auch schon einige Expertenmeinungen gehört, die überwiegend wohlwollend ausgefallen waren. Trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen. Sie brauchte jetzt Ruhe und hoffte, sie auf dem verwunschenen Gut inmitten der Natur zu finden.
Während Igraine auf die kleinen schäumenden Wellen schaute, die das Dampfboot auf eine Reise über die glatte Wasseroberfläche schickte, musste sie an Otto denken. Gestern Nacht hatte er erneut bewiesen, zu welchem Großmut er fähig war. Er hatte ihr weder Vorhaltungen gemacht noch ihre Situation ausgenutzt. Er hatte ruhig ihren Erklärungen zugehört und sie dann in seine Arme geschlossen.
Erst später war ihr bewusst geworden, dass er nackt gewesen war. Nachdem er sich etwas angezogen hatte, hatten sie sich auf den Bootsanleger gesetzt und den Morgen erwartet. Sie hatten viel miteinander geredet. Dabei hatte sich wieder die große Vertrautheit eingestellt, die sie schon im Kosthaus Schwarz gespürt hatte.
Otto hatte gesagt, dass er heute noch etwas Wichtiges in der Stadt zu erledigen hätte. Spätestens morgen früh wolle er sie besuchen kommen. Sie freute sich so sehr auf ihn, dass sie sich vorgenommen hatte, ihn mit einem selbst gebackenen Obstkuchen zu überraschen.
Eine knappe halbe Stunde später stieg Igraine aus dem Dampfboot und bedankte sich bei Herrn Knospe. Dann ging sie mit ihrem Gepäck, einem Köfferchen mit frischer Wäsche und einem Weidekorb mit Lebensmitteln über den Bootsanleger auf das Gut zu. Robert Guthmann hatte bei dem Kauf im Jahr 1887 eigentlich den Plan verfolgt, das Flussufer in mehrere Grundstücke zu teilen und nach dem Vorbild der Colonie Alsen eine gehobene Villensiedlung zu errichten. Aufgrund der schlechten Verkehrsanbindung hatte er jedoch keine Interessenten gefunden. So hatte das Gut einige Jahre einen Dornröschenschlaf gehalten und lediglich als Veranstaltungsort von Familienpicknicken, Kindergeburtstagen, Feiern des Vereins Seglerhaus am Wannsee und Jahresfesten des Vereins Berliner Künstler gedient, bis die Tochter Else anfing, das Gutshaus als Sommerresidenz zu nutzen, und es mit neuem Leben erfüllte. Für den August war sogar ein Miniaturnachbau der Berliner Gewerbeausstellung geplant.
Als Igraine den Bootsanleger überquert hatte und das Schwemmland erreichte, fiel ihr Blick auf eine alte Flussweide, die mit ihren hängenden Ästen nah an der Wasserkante stand. Es hatte den Anschein, als hätte jemand die Rinde abgeschabt und etwas in das helle Holz geritzt. Neugierig ging sie hinüber und fuhr mit den Fingern über die seltsamen Zeichen, die so aussahen wie die Buchstaben einer fremden Sprache. Vermutlich war das einer der Landstreicher gewesen, die zwischen den Städten Potsdam und Spandau häufig am Ufer wanderten und sich an den Obstbäumen und Johannisbeersträuchern gütlich hielten. Es hatte schon Überlegungen gegeben, eine Ringmauer um das Gelände zu ziehen, aber bisher war noch nichts geschehen.
Igraine kletterte die Sanddüne hoch, drehte sich noch einmal um
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