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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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der Neger nicht zu früh starb. Nur solange sein Herz pumpte, würde genügend Blut in den Opferkessel fließen.
    Er griff nach dem Messer und hielt es sich mit beiden Händen vor die Brust. Dann stellte er sich gen Norden, senkte den Kopf und schloss die Augen, als wäre er vom Glanz der Gottheit geblendet. »Als niederster deiner Diener stehe ich vor dir«, sagte er, »um meine unerschütterliche Treue zu zeigen und um dein Wohlwollen zu erwirken. Dir, Odin, gebe ich das Leben von Wilhelm Maharero, Sohn des Samuel Maharero.«
    Dann trat er hinter den Neger und legte die Hand auf den Rücken, um den ersten Schnitt zu setzen. Er wunderte sich, dass sich die Haut genauso warm und weich wie bei einem Weißen anfühlte. Musste sie durch die glühende Sonne Afrikas nicht heißer sein? Musste sie durch das Kriechen durch Dornengestrüpp, durch das Wälzen im Steppenstaub und das ständige Ringen mit wilden Tieren nicht rauer sein?
    Er schüttelte die Überlegungen ab und spürte den runden Holzgriff in der Hand. Er wusste genau, dass er nicht nur zögerte, sondern zauderte. Wieder einmal verfluchte er seine natürliche Abscheu gegen Gewalt. Aus Mitgefühl für die armen Tiere war er Vegetarier geworden. Warum konnte er nicht so unerschrocken sein wie die sagenumwobenen Berserker, die bei der Entscheidungsschlacht am Hafrsfjord im Blut ihrer Feinde gebadet hatten?
    Er rief sich in Erinnerung, wie er in der Kurfürstenstraße im Baum gehockt hatte und in Igraine Raabs Wohnung geschaut hatte. Er rief sich in Erinnerung, wie sich dieser Buschkannibale vor ihr entblößt hatte, wie er mit seinem riesigen Phallus vor sie getreten war und alle möglichen Posen angenommen hatte. Die kalte Wut über das Verhalten dieser minderwertigen Kreatur ließ ihn seinen Ekel vergessen.
    Als er mit seinem Werk fertig war, fiel er auf die Knie. Mehrmals musste er würgen, aber in seinem Magen war nicht mehr viel. Er erbrach nur sauren Schleim. Tränen liefen ihm über die Wangen, und schluchzend verfluchte er die Juden, die ihn zur Ergreifung so drastischer Maßnahmen gezwungen hatten. Wenn es die Itzigs nicht gegeben hätte, hätte er eine Familie gegründet, in der er die germanischen Traditionen gepflegt hätte. Nur diese Parasiten waren schuld, dass er sogar minderwertige Neger töten musste.
    Mit dem Handrücken wischte er sich über die nassen Wangen, stemmte sich auf die Füße und griff nach dem Opferkessel, in dem das Blut hin- und herschwappte. Er tauchte den Wedel ein und besprengte mit ihm die beiden Holzfiguren, die Odin und seinen früheren Mentor Bernhard Förster darstellten und die er auf einem benachbarten Feldstein aufgebaut hatte. Dann stellte er den Opferkessel beiseite und legte sich flach auf den Boden, den Kopf Richtung Norden gewandt.
    »Als niederster deiner Diener liege ich vor dir«, sagte er, »um meine unerschütterliche Treue zu zeigen und um dein Wohlwollen zu erwirken. Ich bitte dich, das Opfer anzunehmen und mich zu führen – auf dem Weg durch den sich lichtenden Nebel.«
    »Klein-Sanssouci«
    Die Hereros hatten sich in den Gästezimmern schlafen gelegt, und die übrigen Gäste waren längst gegangen. Otto schwamm in der Dunkelheit auf seinen Bootssteg zu und kletterte an der Badeleiter hoch. Er griff nach dem bereitliegenden Handtuch, stellte sich an die äußerste Spitze und blickte über das Wasser, das in seiner unbewegten Schwärze unergründlich wirkte.
    Er hätte niemals für möglich gehalten, dass er sich so in einem Menschen täuschen konnte. Er hatte Igraine für eine ernsthafte Person gehalten, der bestimmte Werte wichtig waren. Dass sie für ein flüchtiges Amüsement auf seinen Gefühlen herumtrampeln würde, hätte er ihr nicht zugetraut. War sie wirklich so selbstsüchtig, dass es ihr egal war, wie es nach diesem Abend in ihm aussah?
    Er überlegte, wie lange es her war, dass er zuletzt bei Nacht im Wannsee geschwommen hatte. Das musste im Sommer 1888, nach seiner Rückkehr aus Deutsch-Südwestafrika, gewesen sein. Damals hatte er noch nicht mit beiden Beinen im Leben gestanden. Er hatte sich viele Fragen nach dem Sinn des Ganzen gestellt und in der nächtlichen Stille Antworten gefunden, die sein Handeln noch heute bestimmten. Er war stark geworden und ließ sich nicht mehr so leicht aus der Bahn werfen. Trotzdem fand er es sehr bedauerlich, dass Igraine sich als so wechselhaft entpuppt hatte. Für einen kurzen Zeitraum hatte zwischen ihnen ein Gefühl geherrscht, das klar und intensiv

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