Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
und genoss den Blick auf die Naturidylle, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Kleine Inseln hoben sich aus dem sanften Strom, und die Ufer waren dicht bewaldet. Zwei Segelboote waren Richtung Gatow unterwegs, und ihre weißen Segel hoben sich von der glitzernden Wasseroberfläche ab.
Igraine atmete die frische Landluft ein und dachte: Hier werde ich Ruhe finden!
Bureau des Commissarius
»Sie haben sich selbstverständlich richtig verhalten«, sagte der Commissarius. »Nachdem der junge Berlinreisende das Couvert aufgehoben hatte, hätte sich der Erpresser nicht mehr blicken lassen. Es dürfte daher keinen Unterschied machen, ob sie den Jungen am Schlafittchen gepackt haben oder nicht.«
»Bitte«, sagte Otto, der sich in der Zwischenzeit seiner Maskerade entledigt hatte, und reichte Funke den geschlossenen Umschlag.
»Sie haben nicht hineingesehen«, stellte der Commissarius fest. »Drinnen befindet sich ohnehin nur Zeitungspapier, das ich auf die Größe von Banknoten zugeschnitten habe. Haben Sie das Gesicht des Erpressers erkannt?«
»Ich hab ihn leider nur von hinten gesehen. Er war schlank, mittelgroß und konnte schnell rennen. Außerdem muss er ortskundig gewesen sein, denn er war plötzlich verschwunden. Mir ist aufgefallen, dass seine Hose nach unten hin schmal zulief, wie man es häufig bei Uniformhosen sieht, damit die Soldaten leichter in die Reitstiefel steigen können.«
»Seltsam. Ich hatte bisher nicht in Erwägung gezogen, dass der Mörder und der Erpresser ein und dieselbe Person sein könnten. Ihre Beobachtung passt nämlich zu der Aussage eines Augenzeugen, der einen Verdächtigen gesehen hat, der vor der Synagoge in der Oranienburger Straße stand und ein militärisch anmutendes Gewand trug. Andererseits besitzt in unserem schönen Land wohl jeder zweite Mann eine Uniform … Je länger ich darüber nachdenke, desto absurder erscheint mir ein Zusammenhang. Also Schwamm drüber. Sagen Sie mir lieber, ob Ihnen sonst noch etwas aufgefallen ist.«
»Nein, der Erpresser hat sich mit einem schwarzen Kapuzenumhang verhüllt. Was wird er als Nächstes tun?«
»Er weiß jetzt, dass ich auf seine Forderungen nicht eingehe. Nun müssen wir abwarten. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Nicht jeder wäre einer solchen Bitte mit so viel Diskretion nachgekommen.«
»Schon gut«, sagte Otto und berichtete dem Commissarius, was ihm zur Amputation der Hand eingefallen war. »Ich wundere mich nur, dass das dritte Opfer kein Jude ist. Möglicherweise ist das Motiv des Täters doch nicht rein antisemitisch.«
»Das ist eine Frage, die ich mir auch schon gestellt habe. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit. Nach den jüngsten Rassentheorien gehören alle drei Opfer einem minderwertigen Volksstamm an.«
»Moment mal«, erwiderte Otto, »Juden sind keine Rasse, sie sind lediglich eine Religionsgemeinschaft wie Christen, Buddhisten oder Moslems.«
»Ich weiß das natürlich«, erwiderte der Commissarius, »aber die Antisemiten geben sich zurzeit die größte Mühe, den Deutschen diesen Bären aufzubinden. Mit Erfolg – muss man wohl einräumen.«
»Trotzdem würde diese vermeintliche Gemeinsamkeit nicht als Mordmotiv ausreichen. Den Juden wird in den Hetzblättern vorgeworfen, dass sie nach der Weltherrschaft streben würden, um andere Völker zu unterjochen. Für die Germanen seien sie daher eine Gefahr, die es zu beseitigen gelte. Von den Afrikanern wird zwar das schauerliche Bild des Buschkannibalen gezeichnet, aber als Bedrohung für Deutschland empfindet sie wohl niemand. Ich bin daher der Meinung, dass hier noch etwas anderes, vielleicht etwas Persönliches, eine Rolle spielen muss.«
»Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.«
»Professor von Trittin kannte nicht nur die beiden jüdischen Opfer, sondern hatte auch mit Wilhelm Maharero eine Auseinandersetzung. Er hat sich bei der Vermessung der Schädel auf einen Handel eingelassen, den er als Impertinenz sondergleichen empfunden haben muss. Es kann sein, dass er es dem Prinzen heimzahlen wollte.«
»Auf Ihrem Gartenfest habe ich erfahren, dass Trittin Ihren Leibdiener beleidigt hat. Deshalb sind Sie gegen ihn bei der Regatta angetreten.«
»Ich betrachte nur die Indizien, und davon gibt es so viele, dass es unmöglich ein Zufall sein kann. Mein Verdacht ist mehr als begründet.«
»Sie vergessen schon wieder, dass Trittin für den zweiten Mord ein Alibi hat. Lassen Sie uns abwarten, was wir aus Winfried Wolter
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