Mord in Der Noris
auch gesehen. Und mir noch
gedacht, da muss aber was in der Kindheit ganz entschieden falsch gelaufen
sein. Der ist bestimmt als Kind von seinen Eltern nicht genug geliebt worden.«
Mangelnde Liebe in frühen Jahren war für Johanna
Steiner schon von jeher ein stimmiges Erklärungsmuster für jede Art von
Fehlverhalten gewesen.
Und vielleicht war das ja auch die Erklärung, wenn
auch eine sehr notdürftige, für die Sammelwut der Platzer? Dass das adoptierte
und nach Aussage ihres Exmannes nicht eben wohlgelittene Kind zu wenig
Zuneigung erfahren hatte?
»Du hast doch nächste Woche Geburtstag, Paulchen«,
riss Johanna Steiner sie aus ihren Grübeleien, »und ich habe noch gar nichts
für dich. Sag, womit könnte ich dir denn zumindest eine kleine Freude machen?«
»Das kann ich dir ganz genau sagen: damit, dass ihr
zwei, du und das Maxl, noch recht lange lebt.«
»Das kann ich dir leider nicht schenken. Aber wir
geben uns Mühe, gell, Maxl?«
Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht soll ich
dir was kochen, was du gerne isst? Ochsenschwanzragout mit Basmati-Reis oder
was anderes Feines, wofür bei dir die Zeit nicht langt?«
»Kommt gar nicht in Frage, dass du an dem Tag
stundenlang in der Küche stehst. Nein, nein, an meinem Geburtstag lade ich«,
betonte Paula, »dich zum Essen ein. Wir gehen irgendwo hin, wo es schön ist und
wo der Max dabei sein darf – und machen uns einen ganz gemütlichen Abend. Und
geschenkt will ich nichts haben, gar nichts. Ich habe jetzt gesehen, wohin das
führt, wenn man sich die Bude mit allerlei Zeug vollbunkert, das man gar nicht
braucht.«
»Ja, willst du denn nicht mit deinem Freund und deinen
Kollegen feiern?«, fragte ihre Mutter. »Die erwarten das bestimmt.«
»Nein, will ich nicht. Das ist ungefähr das Letzte,
was ich an diesem Tag will.«
Nachdenklich sah Johanna Steiner ihre Tochter an. »Ich
glaube, Paulchen, du hast ein wenig Angst vor deinem fünfzigsten Geburtstag.
Das brauchst du nicht. Du bist ja noch so jung. Für mich war die Zeit ab
fünfzig mit die schönste in meinem Leben. Und für dich wird das genauso sein,
da bin ich mir sicher.«
Das bezweifelte sie, sagte aber nichts dazu. Jetzt
hatte sie sich doch tatsächlich zu einer Feierlichkeit, wenn auch nur zu einer
im kleinsten Rahmen, hinreißen lassen. Aus freien Stücken. Das wunderte sie.
Noch mehr wunderte sie ihre Vorfreude darauf. Denn ja, der Gedanke, dass sie
den Abend dieses vermaledeiten Tages in Gesellschaft verbringen würde, stimmte
sie wider Erwarten froh. Mehr und mehr.
Als sie den Nordring, der wie immer um diese Zeit
in der Agonie des abendlichen Berufsverkehrs zum Erliegen kam, entlangfuhr,
trällerte sie das alte Beatles-Lied »When I’m sixty-four«.
Frank Weber wohnte in Schniegling, im
kleinbürgerlich-melancholischen Stadtteil des Nürnberger Nordwestens, in jener
Stadtrandsiedlung, wo der Traum vom Eigenheim und der Alptraum der Langeweile
auf bedrückende Weise nebeneinanderlebten. Nachdem sie vom Nordwestring in die
Schnieglinger Straße abgebogen war, tauchten auch schon rechts die ersten
Doppelhaushälften mit ihren übergepflegten Mini-Vorgärten auf. Links war das
Nürnberger Ei, der dreihundert Meter lange Fernmeldeturm, zu ahnen, ein
Schatten im nachmittäglichen Nieselregen. Schließlich hatte sie die
Ganghoferstraße erreicht. Die Suche nach der Hausnummer erübrigte sich, sie
erkannte Heinrichs Dienstwagen schon von Weitem und parkte ihren gleich
dahinter.
Vor der schmucklosen Doppelhaushälfte mit ihrer
billigen Fertigteilgaragenhälfte aus Blech und Beton sowie der unvermeidbaren
gigantischen Satellitenschüssel auf dem Dach kamen sie und Heinrich schnell
überein, dass er die Befragung führen würde. Sie war der Meinung, ein junger
Polizeibeamter habe sicher einen leichteren Zugang zu zwei jungen Frauen als
eine ältere Hauptkommissarin.
Als sie auf die Tür zugingen, flüsterte ihr Heinrich
noch zu: »Paula, ich habe schon mal einen Blick in Webers Kontoauszüge
geworfen. Finanziell sah es bei dem vor ein paar Jahren gar nicht gut aus. Der
hatte Schulden ohne Ende.«
»Na, das ist doch schon mal was«, entgegnete sie in
dem gleichen verschwörerischen Ton.
Dann klingelte sie. Ohne Erfolg. Zweiter Versuch.
Wieder nichts. Sie grinste zu Heinrich hinüber und legte dann ihre rechte Hand
mit großem Vergnügen und ebensolchem Druck auf den Klingelknopf.
Und dort lag diese Hand noch immer, als die Tür
endlich von einer jungen, großen, überschlanken,
Weitere Kostenlose Bücher