Mord in Der Noris
zitierte sie Erwin Platzer mit einer gewissen
Befriedigung ihm gegenüber.
Da aber Heinrich ihre interessanten Charakterstudien
wie auch das Übrige stumm und ungerührt zur Kenntnis nahm, beließ sie es dabei
und riet ihm zu einem Gang ins vierte Stockwerk.
»Du hast doch bestimmt schon wieder Hunger. Was hältst
du davon, wenn du jetzt in die Kantine gehst und ich mache mich auf den Weg in
die Eichendorffstraße, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen, und um
fünf vor fünf treffen wir uns vor dem Haus dieses Herrn Weber?«
»Davon halte ich sehr viel. Warum gehst du eigentlich
nicht mehr in die Kantine?«
»Weil mir die meisten meiner Sachen nicht mehr passen.
Ich muss schauen, dass ich ein paar Pfund abspecke, sonst kann ich mir bald
eine komplett neue Garderobe zulegen.«
»Wenn ich das mal sagen darf: Das gehst du völlig
falsch an. Abends musst du aufs Essen verzichten, nicht mittags oder noch
schlimmer: in der Früh. Dinner-Cancelling, das bringt’s. Aufs Abendessen
verzichten und nicht beim Frühstück oder Mittagessen knausern. Nur so kriegst
du die Kilos wieder los, die du zu viel draufhast. Das, was du machst, ist
kontraproduktiv. Das kannst du dir sparen.«
Sie fand, er hätte ihr ruhig widersprechen dürfen oder
besser: sollen. Dass sie ein solches Vorhaben doch gar nicht nötig habe, sie
bei ihrer immer noch schlanken und ranken Figur. Dass er das nicht getan hatte,
nahm sie ihm ein wenig übel. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie bereits in
diesem »gewissen Alter« war, von dem ihre Mutter so abschreckend gesprochen
hatte.
»Das lässt du bitte meine Sorge sein, wie ich das
handhabe.«
»Meine Fresse, bist du aber in letzter Zeit
empfindlich geworden! Das passt überhaupt nicht zu dir.«
»Ich bin nicht empfindlich, überhaupt nicht«, schoss
sie erbost zurück. »Ich mag es nur nicht, wenn sich jeder in mein Leben
hineinmischt und mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Schließlich mache
ich das umgekehrt auch nicht. Ich finde nämlich, das gehört zum Thema
gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz.«
Als sie ihre Sachen packte und die Jacke vom
Garderobenhaken nahm, schwiegen beide. Ein ungutes Schweigen, weil jeder vom
anderen ein deeskalierendes Wort erwartete.
Erst als sie die Bürotür öffnete, wurde dieses
Schweigen von Heinrich gebrochen: »Ich fürchte, ich muss das mit dem guten Menschen
von gestern wieder zurücknehmen, vorläufig zumindest.«
Sie musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass sein
Gesicht jetzt ein einziges Lächeln war, ein breites, selbstzufriedenes und
liebevolles Lächeln.
Da drehte sie sich mit einem ebensolchen Grinsen zu
ihm um und sagte: »Gut, dann nehme ich auch was zurück, und zwar das mit dem
fähigsten und motiviertesten Mitarbeiter. Ebenfalls zumindest vorläufig.«
Eine Dreiviertelstunde später hatte sie den
Nürnberger Osten erreicht. Diesmal hatte sie Glück, direkt vor der
Eichendorffstraße 73 war ein Parkplatz frei. Sie marschierte auf das in
der Wand eingelassene Geviert der Briefkästen zu – lediglich aus dem von Elvira
Platzer quoll ein von der Regennässe zusammengeklumpter Wust aus bunten
Werbesendungen hervor. Sie riss ihn aus dem sperrigen scharfgratigen Schlitz
und entsorgte ihn in der danebenstehenden Papiertonne.
Dann stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Als sie die Wohnungstür aufschloss, hörte sie hinter sich eine Stimme sagen:
»Halt, das dürfen Sie nicht. An der Tür ist doch ein polizeiliches Siegel …«
Noch während man heute bereits zum zweiten Mal
versuchte, ihr Vorschriften zu machen, was sie zu tun und zu lassen habe,
drehte sie sich um und entgegnete mit ihrem unverbindlichen Allerweltslächeln,
ihrer Betonmauer aus Freundlichkeit und Distanz: »Ich darf das schon, Frau
Vogel. Denn ich bin von der Polizei.«
»Ach, Entschuldigung, Frau Steiner. Ich hab Sie von
hinten gar nicht erkannt. Sie sind aber heute auch so … äh … anders gekleidet
als letztens. Das konnte ich leider von hinten nicht sehen, dass Sie das sind.
Entschuldigen Sie nochmals.«
Der missglückte Versuch einer Erklärung für diese
Verwechslung. Ab morgen, nahm sich die heute so ganz anders gekleidete Frau
Steiner vor, kommen wieder die schmalen und knackigen Sachen zum Einsatz.
Selbst auf die Gefahr, dass ihr Körper da nicht mitspielen wollte. Dann schloss
sie die Tür.
In dem schmalen Flur bot sich ihr das gleiche Bild wie
am Dienstagvormittag. Bis auf ein Detail – der Boden, auf dem die tote
Weitere Kostenlose Bücher