Mord in Der Noris
sicherlich wenig Gutes übrig haben würden,
ließ sie vorerst nicht ins Präsidium zurückfahren, sondern den kurzen Weg in
die Schlieffenstraße nehmen.
Kein Max tobte wie früher in dem Garten, der das
kleine, einstöckige weiß gestrichene Häuschen mit seinem feuerroten Ziegeldach
umgab. Sie klingelte an der Haustür. Es blieb verdächtig still. Erneutes
Klingeln, nun wesentlich beherzter und druckvoller – wieder nichts. Sie trat
zwei Schritte zur Seite und klopfte an das gardinenlose Küchenfenster. Nichts.
Keine Reaktion. Als sie die Gartenpforte mit einem bangen Gefühl hinter sich
zugezogen hatte, hörte sie von der gegenüberliegenden Seite des kleinen schmucklosen
Rasenplatzes ein lautes und freudiges: »Paulchen, hallo, Paula!« Sie spähte mit
zusammengekniffenen Augen hinüber und entdeckte ihre Mutter mit prall gefüllten
Einkaufstaschen in beiden Händen im Gespräch mit einer Nachbarin. Zu ihren
Füßen lag Max.
Paula rannte ihnen entgegen, riss Johanna Steiner die
schweren Taschen aus den Händen und beugte sich erst dann zu dem Rauhaardackel
hinab, der auf ihr Streicheln mit zwar kurzem, aber wiederholtem Schwanzwedeln
reagierte. Eine deutlich erkennbare Steigerung zu seiner lethargischen
Begrüßung von gestern.
»Mensch, Mama, du sollst doch nicht immer das schwere
Glump hier rauftragen«, sagte sie, während sie gemeinsam ins Haus traten. »Wie
oft hab ich dir schon angeboten, dass ich dich zum Einkaufen fahre und dich
auch samt deinen Einkäufen wieder heimbringe. Du musst es mir bloß sagen. Aber
du rufst ja nie an! Mach dir dein Leben halt auch mal ein wenig leichter und
lass dich nicht immer so bitten.«
Das klang wie ein leichter Vorwurf, war aber im Grunde
nur ihre Art, ihre große Erleichterung darüber zu zeigen, dass beide wohlauf
waren. Sie war heilfroh, dass sich ihre dunklen Ahnungen vom Küchenfenster in
keiner Weise bestätigt hatten.
»Ich will das nicht, das weißt du doch. Ich will
autark« – ja, ihre Mutter sagte tatsächlich autark, nicht autonom oder
unabhängig – »bleiben. Außerdem kann ich den Einkauf wunderbar mit der
Nachmittags-Gassirunde fürs Maxl verbinden. Und dann, ich muss in Bewegung
bleiben. Frau Färber sagt das auch. Ich darf mich nicht gehen lassen.«
»Du kannst ja meinetwegen in Bewegung bleiben, aber
ohne Gepäck. Und was Frau Färber sagt, ist mir ziemlich wurscht. Was ist denn
da überhaupt drin, dass das gar so schwer ist?« Schwungvoll hievte sie die zwei
Taschen auf den Küchentisch und begann auszupacken. »Kartoffeln … Milch … Mehl … Zucker … also wirklich.«
»Andere gehen ins Fitnessstudio, ich brauch das nicht.
Ich bringe mich so in Form«, erwiderte ihre Mutter mit einem verschmitzten
Lächeln. »Aber mal was anderes: Ist dir auch aufgefallen, dass es dem Maxl
heute wesentlich besser geht? Er hat dich gleich erkannt, und gefreut hat er
sich auch, das ist doch ein gutes Zeichen.«
»Ja, das finde ich auch. Hoffentlich hält das recht,
recht lange an.«
»Warum bist du eigentlich hier? Hast du heute frei?
Oder baust du wieder mal Überstunden ab?«
»Weder noch. Ich war gerade in der Eichendorffstraße …«
»Wieder in diesem Altenheim?«, unterbrach ihre Mutter
sie interessiert.
»Nein, in der Wohnung der Toten, dieser Messie-Frau.
Aber da hab ich es nicht lange ausgehalten. Wie ein Mensch nur so leben kann!
Was heißt hier leben? Vegetieren trifft es eher.«
»Tja, ich versteh so was auch nicht. Das muss doch
eine Krankheit sein, diese ganze sinnlose Horterei, dieses Sam…«
»Quatsch, das ist keine Krankheit«, wurde sie von
Paula heftig unterbrochen. »Das ist Disziplinlosigkeit. Solche Leute haben die
Kontrolle verloren, das ist alles.«
Sie hörte dem Klang ihrer Worte nach und – erschrak.
Jetzt hatte sie genau wie Apolonia Rupp gesprochen, hart, rechthaberisch und
ohne jeden Anflug von Verständnis.
»Vielleicht handelt es sich dabei eher um einen
Zwang«, schob sie, schon wesentlich milder im Ton, nach. »So wie Heinrich mit
seiner Nägelbeißerei. Ich hab mal eine Sendung im Fernsehen gesehen, da haben
sie einen Mann mittleren Alters, auch einen Messie, regelrecht vorgeführt. Bei
dem war alles mit Werkzeugen vollgestellt, selbst der Garten. Und in seinem
Computer hat er gespeichert, wo was in welcher Anzahl zu finden ist. Auf den
ersten Blick das Chaos pur, auf den zweiten Blick aber ein Chaos mit System,
Ordnung und Unordnung gleichermaßen. Genau wie bei meinem Mordopfer.«
»Die Sendung habe ich
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