Mord in Mesopotamien
hoch. Ich sah, dass sie tot war… Endlich stand ich auf, mir war, als sei ich betrunken. Es gelang mir, zur Tür zu gehen und die Schwester zu rufen.› An sich ist das die durchaus glaubhafte Haltung eines schwergetroffenen Mannes. Meiner Ansicht nach war es aber in Wirklichkeit so: Dr. Leidner tritt ins Zimmer, eilt zum Fenster, zieht Handschuhe an, schließt das Fenster, hebt die Leiche seiner Frau auf und legt sie zwischen Bett und Tür auf den Boden. Dann sieht er einen kleinen Fleck auf dem Teppich vor dem Fenster. Er legt den befleckten Teppich vor den Waschtisch und den vom Waschtisch vor das Fenster. Wenn der Heck bemerkt wird, bringt man ihn in Zusammenhang mit dem Waschtisch und nicht mit dem Fenster… ein sehr wichtiger Punkt. So kommt niemand auf den Gedanken, dass das Fenster etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Dann geht er hinaus in den Hof und spielt die Rolle des verzweifelten Gatten; das fiel ihm übrigens leicht, denn er liebte seine Frau wirklich.»
«Aber, lieber Freund», rief Dr. Reilly ärgerlich, «wenn er sie liebte, warum hat er sie dann ermordet? Aus welchem Grund? Können Sie denn nicht reden, Leidner? Sagen Sie ihm doch, dass er verrückt ist!»
Dr. Leidner sagte nichts und rührte sich nicht.
Poirot erwiderte: «Habe ich nicht eben erst gesagt, dass es sich um ein crime passionel handelt? Warum drohte ihr erster Gatte, Frederick Bosner, sie zu töten? Weil er sie liebte… und schließlich machte er seine Drohung wahr.
Ja, ja – als mir klar wurde, dass Dr. Leidner sie getötet hat, wurde mir auch alles andere klar… Ich kehre zum Beginn unserer Reise zurück… zu Mrs Leidners erster Ehe… den Drohbriefen… der zweiten Heirat. Die Briefe verboten ihr, irgendeinen anderen Mann zu heiraten, sie verboten ihr aber nicht, Dr. Leidner zu heiraten. Wie einfach ist das… wenn Dr. Leidner Frederick Bosner ist.
Wir kehren jetzt zu dem jungen Frederick Bosner zurück. Er liebte seine Frau mit der überwältigenden Leidenschaft, die sie in Männern erwecken konnte. Sie verrät ihn. Er wird zum Tode verurteilt. Er entkommt. Bei einem Eisenbahnunglück verliert er nicht das Leben, sondern es gelingt ihm, sich in den jungen schwedischen Archäologen Eric Leidner zu verwandeln, dessen Leiche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde und der als Frederick Bosner begraben wird.
Wie ist die Haltung des neuen Eric Leidner seiner Frau gegenüber, die ihn in den Tod hat schicken wollen? Er liebt sie noch immer. Er beginnt, sich ein neues Leben aufzubauen. Er ist ein äußerst fähiger Mann, sein neuer Beruf liegt ihm, er wird ein bedeutender Archäologe. Aber nach wie vor ist er von der einen Leidenschaft besessen. Er hält sich über das Leben seiner Frau auf dem Laufenden, und er ist kaltblütig, unerbittlich entschlossen (denken Sie daran, dass Mrs Leidner ihn Schwester Leatheran gegenüber als liebevoll, freundlich, aber auch skrupellos schilderte): Sie darf nie einem anderen Mann gehören. Wann immer er glaubt, dass das eintreten könnte, schickt er ihr einen Brief. Er imitiert einige charakteristische Eigenheiten ihrer Handschrift für den Fall, dass sie sich mit den Briefen an die Polizei wenden würde. Frauen, die sich selbst anonyme Briefe schreiben, sind für die Polizei etwas Alltägliches, und so könnte sie aufgrund der Ähnlichkeit der Handschrift in einen solchen Verdacht geraten. Zudem lässt er sie im Zweifel, ob er noch lebt oder nicht.
Nach vielen Jahren hält er schließlich seine Zeit für gekommen: Er tritt wieder in ihr Leben. Alles geht gut. Seine Frau hat nicht einmal im Traum eine Ahnung von seiner Identität. Er ist ein bekannter Gelehrter. Der ehemalige gut aussehende junge Bursche ist nun ein Mann in mittleren Jahren mit einem Bart und hängenden Schultern. Und die Geschichte der beiden wiederholt sich: Zum zweitenmal gelingt es Frederick, Louise zu beherrschen, zum zweitenmal heiratet sie ihn. Und kein Brief verbietet es ihr.
Aber später kommt ein Brief. Warum?
Ich glaube, Dr. Leidner wollte kein Risiko eingehen. Die ehelichen Intimitäten hätten Erinnerungen in ihr wecken können. Er will seiner Frau ein für allemal klarmachen, dass Eric Leidner und Frederick Bosner zwei verschiedene Menschen sind. Aus diesem Grund kommt also nochmals ein Brief. Dann folgt die recht kindische Geschichte mit dem Gas, selbstverständlich aus dem gleichen Grund von Dr. Leidner inszeniert. Nun ist er beruhigt und zufrieden, er braucht keine Briefe mehr zu schicken, sie
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