Mord mit kleinen Fehlern
Leben, ich habe es im Fernsehen gesehen! Jetzt liebt er dich mehr als je zuvor!«
Die Erkenntnis zuckte durch Annes Gehirn. Kevin war gar nicht der Mörder. Beth hatte Willa getötet. Ihre Gedanken rasten. Kevin musste Annes Haus in dieser Nacht beobachtet haben. Er hatte gesehen, wie Beth Willa erschoss, und geglaubt, sie hätte Anne erschossen. Er musste hergelaufen sein, voller Schock die Mordwaffe in die Hand genommen und sie dann wieder fallen gelassen haben. Mein Gott. Es war Beth gewesen!
»Diesmal wirst du sterben«, erklärte Beth mit ruhiger Stimme. »Leb wohl.« Sie hob die Waffe und zielte zwischen Annes Augen.
»Nein!«, schrie Anne und schlug mit beiden Armen gegen die Waffe. Die Waffe ging mit einem ohrenbetäubenden Peng los.
»Du Miststück!«, zischte Beth wütend.
»Hilfe!«, schrie Anne und stieß Beth zu Boden. Sie sprang über Beth hinweg zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal, als ein zweiter Schuss erklang. Peng!
»Hilfe! Hilft mir denn niemand! Bitte!«, schrie Anne, während sie die Treppen hochsprang. Wohin lief sie eigentlich? Was sollte sie tun? Sie hatte keine Waffe mehr, die hatte sie abgegeben. War genug Zeit, um die 911 zu wählen? Es stand ein Telefon im Schlafzimmer. Anne gelangte in den ersten Stock, Beth ihr auf den Fersen. Sie hastete zu dem beleuchteten Schlafzimmer, bevor Beth noch einmal schießen konnte.
»Hilfe!«, schrie Anne, aber niemand kam. Wo waren ihre
Nachbarn? Mr. Berman? Mr. Monterosso? Der ganze Rest?
Anne erreichte das Schlafzimmer, stürzte sich auf das Telefon auf dem Schreibtisch, aber schon hörte sie Beth' Tritte auf der Treppe. Ihr Blick fiel auf den gewichtigen Laptop, sie packte ihn, wirbelte herum und schleuderte ihn Beth ins Gesicht, als diese im Türrahmen erschien.
»Aaaah!« Beth' Hand fuhr zu ihrer Nase. Peng ! Die Waffe ging erneut los. Anne spürte die Hitze einer Kugel, die an ihrer Wange vorbeiflirrte. Das Geräusch entsetzte sie. Beth beugte sich vor, hielt sich die Nase. Blut floss durch ihre Finger.
Anne rannte an ihr vorbei und um ihr Leben. Sie schoss schreiend aus dem Schlafzimmer, auf die Treppe zu, hechtete nach unten zur Haustür. Eine Sekunde später war das Poltern von Tritten auf der Treppe zu hören.
Anne stürzte auf die Haustür zu. Doch sie würde es nicht rechtzeitig schaffen. Ehe sie die Kette entriegelt hätte, wäre sie tot. Sie musste kämpfen. Anne sah sich hektisch um. Der Schrubber dort in der Ecke. Perfekt!
Anne packte ihn und schleuderte ihn gegen Beths Schienbeine, als diese mit der Waffe in der Hand auf sie zurannte. Beth schrie laut auf, knickte ein und ließ die Waffe fallen. Mit einem Hechtsprung warf sich Anne auf sie. Als Beth sich aufrichtete, heftig aus der Nase blutend und immer noch vor Wut heulend, hatte Anne die Waffe auf sie gerichtet.
»Du erschießt mich ja doch nicht!«, rief Beth und spuckte
Blut.
Anne spürte, wie sie vor Wut zitterte. Sie hatte Kevin nicht erschossen, aber nur weil sie während des Kampfes nicht richtig hatte zielen können. Jetzt konnte sie es. Sie sah auf den Lauf der Waffe, ein alter Colt-Revolver. Nicht gesichert. Feuerbereit.
Anne spürte eine Woge aus Adrenalin. Sie konnte Beth töten. Sie sollte Beth töten. Plötzlich schien das eine gute Idee. Der beste Plan B, den Anne je gehabt hatte. Keine Lucy-Episode hatte diesen Fall vorgesehen. Dies war das echte Leben. Anne richtete den Revolver zwischen Beth' blaue Augen.
Anne sah alles vor sich, was sie wegen dieser Frau hatte erleiden müssen. Sie hatte Willa umgebracht, ein völlig sinnloser Mord. Deshalb hatte Kevin sie im Visier gehabt, nicht als Stalker, sondern weil er glaubte, dass sie Anne getötet hatte.
Anne sah wie betäubt auf die Waffe in ihrer Hand. Dann fiel ihr Blick auf etwas anderes. Den italienischen Talisman, der um ihren Hals baumelte. Sie sah das Bild von Mrs. DiNunzio vor sich, die duftgeschwängerte kleine Küche. Das Bild, das sie sah, gemahnte sie an Freundschaft, Familie und Liebe.
Annes Finger schlossen sich um den Colt.
Und dann traf sie ihre Wahl.
33
Der fünfte Juli, ein Dienstagmorgen, dämmerte klar und kühl. Die Temperatur betrug zivilisierte 21 Grad Celsius, geringe Luftfeuchtigkeit. Vor dem kristallklaren Himmel über Philadelphia hob sich die glitzernde, metallische Skyline ab. Die Sonne stand noch niedrig, lungerte hinter den Wolkenkratzern, schlief nach einem umtriebigen Wochenende voller Uncle-Sam-Zylinder und roter Plateauschuhe etwas aus.
Die Stadt machte sich
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