Mord mit kleinen Fehlern
wie war Kevin aus dem Gefängnis gekommen? War es vielleicht doch nicht Kevin gewesen? Sie stand verwirrt auf und starrte ins Leere. Plötzlich musste sie wieder an Mel denken. Hatte Kevin ihn mitgenommen? Wo könnte er sein? Dann fiel ihr ein, wo sich der Kater versteckte, wenn der Gasmann kam.
»Mel! Mel!«, rief sie, drehte sich um und hastete die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Er lag nicht auf dem Bett, aber die Lamellentür zu ihrem Schrank stand offen.
»Mel?« Anne rannte hinüber und riss die Tür im selben Moment auf, als sie ein empörtes Miauen hörte. Mel hatte zwischen den Jimmy-Choo-Schuhen geschlafen und streckte jetzt seine Vorderbeine.
»Meine Superkatze!« Anne hob ihn hoch, und sein warmer Hals vibrierte. Sie kuschelte ihr tränennasses Gesicht in seine Weichheit, obwohl sie wusste, dass ihre Emotionen nur zum Teil seiner Rettung zuzuschreiben waren. »Lass uns hier verschwinden«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie verließ das Zimmer, aber am Kopf der Treppe versteifte sich
der Kater mit einem Mal in ihren Armen.
»Schon gut, Baby«, tröstete sie ihn, aber da hörte sie Schritte auf der Treppe vor dem Haus. Dann das metallische Klicken des Türknaufs.
Anne erstarrte auf der obersten Treppenstufe. Jemand war an der Tür. Sie trat zurück, außerhalb des Sichtfeldes. Gleich darauf wurde die Haustür aufgestoßen.
6
Anne stand im Flur des ersten Stocks, kraulte Mel, um ihn still zu halten, und lauschte den Geräuschen im Erdgeschoss. Es klang nach einer ganzen Gruppe von Menschen, und sie hoffte, dass es nicht die mobile Spurensicherung war. Anne hörte, wie der Lärm des Feiertagsverkehrs durch die offene Haustür drang. Wer immer das Haus betreten hatte, musste noch im Eingangsbereich stehen, wo Willa tötet worden war. Plötzlich erklang eine Männerstimme:
»Für uns war es ziemlich eindeutig, durch das Muster. der Spritzer an der Ostwand, hier, und an der Eingangstür. Ganz typisch für eine Schrotflinte. Sehen Sie hier, auf der Milchglasscheibe? Und auf dem Boden. Der Teppichboden.«
Scheiße ! Er hörte sich wie ein Cop oder ein Detective an, und Anne zog sich, mit Mel im Arm, von der Treppe zurück. Sosehr sie sich auch wünschte, zur Polizei gehen und ihr alles sagen zu können, würde sie das nie wieder tun. Die Polizei hatte sie auch das letzte Mal nicht zu beschützen vermocht, und sie konnte einfach nicht vergessen, wie der stählerne Lauf des Gewehrs auf sie gerichtet war.
Der Detective fuhr fort: »Die junge Anwältin, Murphy, geht an die Tür. Der Täter schießt zweimal, zwei Schüsse ins Gesicht. Sie fällt in den Eingangsbereich. Der Täter lässt die Waffe fallen und macht sich vom Acker. Er lässt die Haustür offen. Er ist weg. Irgendwo da draußen.«
Oben im ersten Stock wurde Anne übel, und sie umklammerte Mel, diesmal, um sich zu trösten. Sie hatte also mit dem Tathergang recht gehabt, aber es war zu furchtbar, um länger darüber nachzudenken. Die arme Willa.
Jetzt ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. »Er ließ die Waffe also fallen? Der Kerl ist kein Dummkopf.«
Anne zuckte überrascht zusammen, als sie die Stimme erkannte. Da s is t Benni e Rosato . Wa s mach t si e den n hier? Sie war nie zuvor in Annes Haus gewesen, obwohl sie keine fünf Minuten von hier entfernt wohnte. Natürlich sah sich Bennie die Tatorte aller Mordfälle an, in denen sie die Verteidigung übernommen hatte. Das war der erste Schritt bei jeder Verteidigung. Aber warum war sie jetzt hier?
Dann wieder der Detective: »Ja, er ist schlau. Das Gewehr ist jetzt in der Ballistik. Es wird auf Fingerabdrücke untersucht, aber das kann wegen der Feiertage eine Weile dauern. Es war ja schon haarig, am Feiertagswochenende überhaupt jemanden aufzutreiben. Ich vermute, sie werden nichts finden.«
»Das denke ich auch«, sagte Bennie. »Der Kerl hatte es geplant. Perfektes Timing, perfekte Durchführung.«
»Perfekte Exekution«, ergänzte ein zweiter Mann und lachte plötzlich auf.
»Was haben Sie da gesagt?«, verlangte Bennie zu wissen.
»Das ist nicht komisch«, meinte eine weitere Stimme, die einer Frau gehörte.
Noc h ein e Überraschung . Da s is t Jud y Carrier . Also war sie da unten. Als Anne noch lebte, war Judy nie vorbeigekommen; jedes Mal, wenn Anne sie zum Essen einlud, hatte Judy abgelehnt. Und wenn Judy dabei war, dann mit Sicherheit auch Mary - die beiden waren an der Hüfte zusammengewachsen. Anne hätte über die Absurdität des Ganzen beinahe lachen müssen.
Weitere Kostenlose Bücher