Mord und Mandelbaiser
Schweigepflicht gebunden, aber galt die nicht nur seinen Patienten gegenüber?
Sie räusperte sich, warf unbehagliche Blicke in Richtung des Sarges, in dem der Dichter lag, und trug ein Gefecht mit sich aus.
Was würde Friesing tun, wenn sie ihm von Rudolf Westhölls Beobachtung berichtete? Musste er nicht dafür sorgen, dass der tote Dichter statt auf den Friedhof ins gerichtsmedizinische Institut gebracht wurde? Und was dann? Was, wenn sich die Flecken als harmlos erwiesen, wenn sie nicht die mindeste Bedeutung hatten? Dann wäre unsinnigerweise ein Sturm entfacht worden, von dem sich das Bestattungsinstitut Westhöll womöglich nicht mehr erholen würde. Und sie trüge die Schuld daran. Aber was, wenn es sich nun doch um echte Holzer-Blasen handelte, verursacht durch …
Thekla wurde die Entscheidung, ob sie den Doktor aufklären oder sich in Ausflüchte retten sollte, unverhofft abgenommen.
Rings um sie herum begann ein heftiges Stühlerücken, ein lautes Geschirrklappern, ein Scharren und Schrammen. Sie sah auf und stellte fest, dass die Trauergäste offenbar dabei waren, sich zu einem Spalier zu formieren. Rudolf Westhöll machte sich gerade daran, den Sarg, der sich auf einer Rollbahre befand, vor der im Entstehen begriffenen Gasse aus schwarz gekleideten Gestalten in Position zu bringen.
Thekla und Dr. Friesing reihten sich eiligst ein.
»Ich lese nach und gebe Ihnen Bescheid«, flüsterte ihr Friesing noch zu, bevor er Haltung annahm und den Kopf zum Ehrengruß neigte.
Klassische Musik, die Thekla keinem ihr bekannten Komponisten zuzuordnen vermochte, begann zu spielen, woraufhin Rudolf Westhöll den Sarg gemessenen Schrittes in Bewegung setzte. Majestätisch glitt er an gesenkten Köpfen und gefalteten Händen entlang.
Als sich die beiden Menschenketten zu Paaren formten, um einen Trauerzug zu bilden, der den Sarg zum Leichenwagen begleiten sollte, fand sich Thekla neben dem jungen Mann wieder, der am Nachmittag beim Verlassen des Café Krönner die Tür für sie aufgehalten hatte. Vergeblich mühte sie sich ab, auf seinen Namen zu kommen.
Verflixt, dachte sie, das ist doch erst zwei Stunden her. Wie verkalkt bin ich denn schon?
Pfeffer, Oskar Pfeffer, meldete sich ihre Erinnerung plötzlich. Thekla atmete auf.
Aus purer Erleichterung nickte sie dem Herrn verbindlich zu. Er nickte mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück.
Der Leichenwagen wartete mitten auf der Zufahrt zum Haus auf seinen Passagier. Die Trauergäste bildeten einen Halbkreis um das Heck, hielten sozusagen Wacht, während es den Dichter verschluckte. Wenig später rollte der auf Hochglanz polierte schwarze Wagen die Zufahrt hinunter, und die Trauergäste beeilten sich, zu ihren Autos zu kommen, um ihm zu folgen.
Pfeffer war stehen geblieben. Mit einer Neuauflage des liebenswürdigen Lächelns von vorhin wandte er sich an Thekla. »Darf ich Sie in meinem Wagen mit zum Friedhof nehmen? Das würde Ihnen das übliche Gerangel um einen Parkplatz dort ersparen.«
Höflich, aber energisch lehnte Thekla das Angebot ab. Sie hatte entschieden, dass es genug sei für heute. Abgesehen von Hilde und Wally würde es niemandem auffallen, wenn sie bei der Andacht am Leichenschauhaus fehlte. Und falls ihr die beiden noch über den Weg liefen, konnte sie ihnen ja kundtun, dass sie sich davonmachen wollte. Sie oder Martin würden aus gesellschaftlichen Rücksichten ohnehin an der Beerdigung teilnehmen müssen, die in ein oder zwei Tagen anstand.
»Sie können es wirklich riskieren, mitzufahren«, sagte Pfeffer. »So eine Schrottlaube ist mein Auto nun auch wieder nicht, dass man sich ihm nicht anvertrauen könnte.«
»Ich würde es bedenkenlos tun«, erwiderte Thekla, »aber …«, sie entschloss sich, schlicht und einfach die Wahrheit zu sagen, »… ich will nach Hause fahren. So gut kannte ich Hermann Lanz wirklich nicht, dass ich mich verpflichtet fühlen sollte, ihn sogar bis ins Leichenschauhaus zu begleiten.«
»Mir hat der Dichter so gute Geschäfte beschert«, sagte Oskar Pfeffer darauf, »dass ich geradezu gezwungen bin, dabei zu sein, wenn sein kostbarer Sarg dort aufgestellt wird.«
»Der Sarg des Dichters sieht tatsächlich teuer aus«, gestand Thekla zu.
Pfeffer ließ ein leises Schnauben hören. »Das ist der Cocoon, ein Designerstück aus poliertem Kirschbaumholz. Haben Sie sich die Innenausstattung angesehen? Teerosengelbe Seidenkissen, das Beste vom Besten. Und die Beschläge, silberge…«
Thekla hörte nicht mehr hin.
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