Mord und Mandelbaiser
zustimmen. »Ja, vermutlich würde es so kommen.«
Hyperventilieren, hatte man ihr ärztlicherseits einmal erklärt, basiert auf psychischen Ursachen und tritt vor allem in Verbindung mit intensiven Gefühlen von Angst, Wut und Ärger auf. Der Betroffene atmet mit den Brustmuskeln anstatt mit dem Zwerchfell. Er atmet dabei schneller und tiefer, als für die Versorgung mit Sauerstoff und den Abbau des Kohlendioxids nötig ist. Das falsche Atmen bewirkt, dass zu viel Sauerstoff ein und zu viel Kohlendioxid ausgeatmet wird. Das führt zu einer Übersäuerung des Blutes. Die Folgen sind Schwindel- und Schwächegefühle, die bis zur Bewusstlosigkeit führen können. Der ärztliche Rat lautete, sich im Notfall eine Tüte über den Kopf zu stülpen, sodass statt Sauerstoff Kohlendioxid eingeatmet werden würde, wodurch sich die Konzentration der Blutgase wieder ins Gleichgewicht bringen ließe. Thekla hatte nie gewagt, besagte Methode auszuprobieren.
»Aber selbst wenn ich Einbruch und Leichenfledderei erfolgreich hinter mich brächte«, sagte sie zu ihrem nicht anwesenden Bruder, während sie einem gläsernen Faun, der die Haustür bewachte, über den glatten Schädel strich, »was dann?«
Der Faun grinste faunisch.
Martins Antwort hätte vermutlich »Fiasko?« gelautet.
»Eben«, erklärte Thekla. »Falls die in Rede stehenden Flecken wirklich Holzer-Blasen sind, starb der Dichter an der Überdosis eines Barbiturats, wofür wir nach der Blutuntersuchung die Bestätigung bekämen. Weil aber Hildes Neffe das Phänomen bei Lanz offenbar nicht zum ersten Mal vor Augen hatte«, erläuterte sie, wobei sie dem Faun provozierend ins Gesicht starrte, »müssen wir ein Versehen ausschließen.«
Der Faun grinste geradezu diabolisch.
»Mein lieber Martin, die Sache ist teuflisch«, sagte Thekla. »Wenn sich im Blut des Dichters eine ausreichende Menge an Rückständen nachweisen ließe, hätten wir uns nicht nur wegen Einbruchs, Sachbeschädigung und Leichenfledderei strafbar gemacht, sondern womöglich auch wegen Verschleierung eines Verbrechens. Hätte man nicht schon beim ersten geringsten Verdacht die Polizei informieren müssen?«
Martin würde ihr wohl vorbehaltlos zustimmen.
»Wie man es auch dreht und wendet, es ist vertrackt. Gibt es noch eine Chance, ungeschoren davonzukommen?«
Martin würde wohl verneinen.
»Bleibt nur die Flucht nach vorn«, resümierte Thekla. »Auf welche Weise auch immer, die Fleckengeschichte muss geklärt werden. Was, wenn Rudolf bald wieder Holzer-Blasen an einer Leiche entdeckt? Dann …«
Sie wagte nicht weiterzusprechen. Stattdessen warf sie einen letzten vernichtenden Blick auf den grinsenden Faun, drehte sich um und lief zu ihrem Wagen. Bevor sie ihn startete, riss sie einen Zettel von dem Spiralblock auf dem Armaturenbrett und kritzelte das Wort »Holzer-Blasen« darauf. Zu Hause würde sie ihn an die Pinnwand heften.
Donnerstag, der 16. Juni, und Freitagmorgen
Nachmittags im Bestattungsinstitut Westhöll
»Wohin mit dem Krempel?«, fragte Hilde gereizt und gab selbst die Antwort. »Ins Lager hinüber, zuhinterst die Kisten mit den Sägespänen.«
Doch Lore Westhöll schüttelte vehement den Kopf. »Sie kommen in den Urnenständer im Ausstellungsraum, und was nicht mehr hineinpasst, kommt in die Vitrine. Du weißt ganz genau, wie beliebt diese handbemalten Urnen sind. Wenn wir sie nicht feilbieten, macht die Konkurrenz das Geschäft.«
Unwillig öffnete Hilde einen Karton, wickelte eines der Aschegefäße aus seiner Ummantelung und betrachtete es angewidert. Geradezu erbost stach sie die Spitze ihres Zeigefingers in einen himmelblauen See, in dem sich ein roter Kirchturm spiegelte.
Sie wollte gerade ihre Meinung über das Talent des Malers zum Besten geben, da kam ihr Lore zuvor. »Oskar sagt, die Urne mit dem Granzbacher Kirchlein verkauft sich spitzenmäßig, weil alles so detailgenau dargestellt ist. Sogar ein Engel schwebt über der Kirchturmspitze, und der heilige Antonius steht vor dem Eingangsportal.«
Hilde fasste das Kirchlein am grellgrünen Ufer des himmelblauen Sees ins Auge. »So, so, der heilige Antonius«, sagte sie spitz. »Ich hätte das Gebilde für einen verkrüppelten Baum gehalten und den schwebenden Engel für eine Fledermaus. Was für eine primitive Kleckserei.«
»Geschmackssache, Tante Hilde, künstlerische Werke sind halt Geschmackssache. Außerdem haben wir keine Wahl. Die Urnen vom Siegfried sind die einzigen handbemalten auf dem Markt.«
»Wer
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