Mord und Mandelbaiser
Stenglich selbst wohl am allerwenigsten. Es spielte ja auch keine Rolle. Entscheidend war, dass Anna Kaltenbach am Vorabend ihres Todes keine ungewöhnlichen Flecken aufgewiesen hatte – an den Knie-Innenseiten schon gar nicht –, dass Hilde bald erfahren würde, ob sich post mortem welche gebildet hatten, und dass sie eine Liste der Medikamente besaß, die Anna Kaltenbach verordnet worden waren.
Trifft sich doch ganz ausgezeichnet, sagte sie sich, dass Pfeffer heute noch zwei Gräber in Scheuerbach auszuheben hat. Das führt nämlich dazu, dass Rudolf – sobald der Bürgermeister bei uns anruft – persönlich zu den Kaltenbachs fahren muss, um Anna zu versorgen. Dann werden wir ja sehen, was er zu berichten hat.
Hilde fieberte dem Klingeln des Telefons entgegen. Weshalb zögerten die Kaltenbachs, das Bestattungsinstitut zu informieren? Der Totenschein war doch laut Pfeffer längst ausgestellt. Worauf warteten sie also noch?
Mit jeder Minute, die verging, steigerte sich Hildes Unmut. Der Granzbacher Bürgermeister würde doch wohl nicht so geizig sein, seiner Mutter eine professionelle thanatologische Behandlung zu verweigern, und die Tote selbst versorgen? Andererseits: War er nicht immer schon ein Geizhals gewesen? Hatte er sich nicht schon in der Volksschule das Geld für einen neuen Bleistift gespart und lieber die Stummel verwendet, die seine Mitschüler nicht mehr benutzen wollten?
»Himmelkreuzdonnerwetter, melde dich endlich«, rief Hilde laut, als könne ein saftiger Fluch den Bürgermeister auf Trab bringen.
Ruhelos lief sie von der Registratur in den Ausstellungsraum und wieder zurück, sammelte hier eine Akte auf, zupfte dort eine Dekoration zurecht, anstatt sich zu fragen, was sie sich eigentlich erhoffte.
Wies Anna Kaltenbachs Leiche keine Flecken auf, dann war man nicht klüger als zuvor. Falls aber doch, war man auch kein bisschen klüger, weil Rudolf vermutlich erneut davon absehen würde, einen weiteren Arzt hinzuzuziehen. Diesen Friesing beispielsweise. Friesing ans Totenbett zu bestellen, bedeutete, dass der Bestatter begründete Zweifel an der Todesursache anzumelden hatte – und das bei der Mutter des Bürgermeisters? Niemals!
Nach fruchtlosem Hin- und Herlaufen suchte Hilde dann doch ihre Büroecke auf und sortierte an dem Packen Papier herum, der tags zuvor liegen geblieben war. Die Tür zur Registratur hatte sie offen gelassen, um mitzubekommen, was sich tat.
Im Büro gegenüber schien Lore mit Oskar Pfeffer zu telefonieren. Aus Rudolfs Büro drang kein einziger Laut.
Er muss aber da sein, dachte Hilde.
Vor einer halben Stunde, als sie im Hof draußen gestanden war und Pfeffer ihr erzählt hatte, was er auf dem Friedhof erfahren hatte, war durch eines der Fenster deutlich sichtbar gewesen, dass Rudolf an seinem Schreibtisch saß. Er hätte den Anruf also entgegennehmen müssen. Oder hatte er inzwischen den Raum verlassen?
Hilde beschloss, vorsichtshalber nachzusehen, und eilte wieder in den Flur, als sie in Rudolfs Büro das Telefon klingeln hörte.
»Wurde aber auch Zeit«, brummte sie und blieb lauschend stehen, um mitzubekommen, ob er vorhatte, umgehend zu den Kaltenbachs aufzubrechen.
Sie war sich so sicher, der Bürgermeister käme endlich seiner Verpflichtung nach, dass es eine Zeit lang dauerte, bis sie merkte, dass Rudolf mit dem Pfarrer telefonierte.
»Kreuzkruzitürken, worauf warten die Kaltenbachs denn? Dass Anna von einem Geschwader Fliegen belagert wird?«
Kopfschüttelnd steuerte sie über den Flur wieder zur Registratur zurück.
Als sie gerade eintreten wollte, fiel ihr auf, dass es vis-à-vis still geworden war. Lore hatte also ihr Gespräch mit Oskar Pfeffer beendet. Kurz entschlossen drehte sich Hilde um und marschierte ins angrenzende Büro.
»Wieso ist Rudolf nicht längst auf dem Weg zu den Kaltenbachs?«, fragte sie scharf.
Lore schaute verwirrt von der Tastatur ihres Rechners auf.
»Anna Kaltenbach ist doch heute Nacht verstorben«, half ihr Hilde auf die Sprünge.
Lore schien noch immer nicht zu begreifen.
Da sagte Hilde mokant: »Anna Kaltenbach ist seit heute Nacht eine Leiche, und was haben wir hier? Ein Beerdigungsinstitut, oder etwa nicht?«
Lore lächelte flüchtig. »Leider nicht das einzige im Landkreis. Die Kaltenbachs, heißt es, sind mit dem Moosbacher Bestatter im Geschäft.«
Hilde schnappte nach Luft. »Wie kommt ein Granzbacher Bürgermeister dazu, Aufträge in anderen Gemeinden zu vergeben?«
»Ich hatte vorhin Oskar in der
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