Mord und Mandelbaiser
Röte in die Wangen stieg. Was Anna Kaltenbach wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass es ihr nur darum ging, ihre nackten Beine in die Finger zu bekommen, um sie zu inspizieren? Hastig verteidigte sie sich vor sich selbst mit der beliebten Floskel »Der Zweck heiligt die Mittel«, schlug die Bettdecke zurück, begann, das rechte Bein Anna Kaltenbachs einzucremen, und musterte dabei jeden Zentimeter Haut. Flecken gab es genug. Kleine Ekzeme, teils frisch, teils vernarbt mit Krusten und Schuppen, Rötungen, bläuliche Verfärbungen, Druckstellen, Unmengen von braunen Altersflecken und ganze Ströme von Besenreisern, die sich von der Leiste bis zum Knöchel zogen. Am jungfräulichsten schien die Haut an der Knie-Innenseite zu sein, heller, weniger faltig, irgendwie dünner – und sie wies nicht das kleinste Fleckchen auf.
Ganz genauso verhielt es sich beim linken Bein. Kein Bläschen, kein Fleckchen, nahezu straffe Haut an der Knie-Innenseite.
»Da kommt man sich ja schier zum Besten gehalten vor«, murmelte Hilde.
»Was meinst du, Hildchen?«, fragte Anna Kaltenbach müde.
Hilde breitete die Bettdecke sorgsam über ihre Beine. »Morgen komme ich wieder und creme Sie ein. Die Salbe lasse ich gleich da.« Sie stellte das Döschen auf den Nachttisch, wo sich etliche Packungen mit Arzneimitteln befanden. »Müssen Sie denn gar so viele Medikamente einnehmen, Frau Kaltenbach?«, erkundigte sie sich.
»Stenglich spart nicht mit Schmerzmitteln und Schlafpulvern«, lautete die Antwort. »Und dafür bin ich ihm wirklich dankbar.«
Hilde merkte, dass die alte Frau inzwischen sehr erschöpft war und wohl gleich einschlafen würde. »Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich gehe?«, fragte sie.
Anna Kaltenbach schlug die Augen auf, die ihr bereits zugefallen waren. »Ein Schlückchen zu trinken wäre fein.«
Hilde nahm die kleine, altmodisch wirkende Limonadenflasche, die sie schon zuvor auf dem Nachttisch bemerkt hatte, fand ein Glas und schenkte ein. Skeptisch betrachtete sie die gelbliche Flüssigkeit, die das Glas füllte.
Frau Kaltenbach hatte ihren argwöhnischen Blick offenbar bemerkt, denn sie sagte: »Birnensaft. Köstlich, Hildchen. Aber damit ist es jetzt auch zu Ende.«
Hilde half ihr, sich aufzurichten, und hielt ihr das Glas an den Mund.
Anna Kaltenbach trank es bis auf den letzten Tropfen aus, dann leckte sie sich die Lippen. »Hermanns Birnensaft ist um Klassen besser als seine Verse. Die Flasche da hat er mir noch kurz vor seinem Tod gebracht. Und ich habe sie mir bis heute aufgespart. Aber was hätte es für einen Sinn, noch länger zu warten.« Sie sank aufs Kissen zurück und war auf der Stelle eingeschlafen.
Nachdem Hilde das leere Glas abgestellt hatte, begann sie methodisch, die Namen der Arzneien auf dem Nachttisch in ihrem Notizbuch aufzulisten.
Bevor sie sich auf den Nachhauseweg machte, sah sie auch noch in den Fächern des Nachttischs und in den Schubladen einer Kommode nach, weil sie es für möglich hielt, dass sich dort weitere Medikamente befanden, was aber nicht der Fall war. Während sie all das erledigte, vernahm sie die ruhigen Atemzüge ihrer ehemaligen Lehrerin und nickte mehrmals zufrieden vor sich hin. Anna Kaltenbach schien wohlig und behaglich zu schlummern.
Wie hätte Hilde ahnen können, dass sie nicht wieder aufwachen würde.
Rudolfs Gehilfe Egon Pfeffer brachte die Nachricht von Frau Kaltenbachs Ableben am nächsten Morgen vom Granzbacher Friedhof, wo er das Grab für den ehemaligen Sparkassenleiter ausgehoben hatte, mit ins Bestattungsinstitut.
So gut wie immer war es Pfeffer, der als Erster über die aktuellsten Ereignisse in der Gemeinde Bescheid wusste.
»Das liegt daran, dass ich Jahr und Tag auf Friedhöfen zugange bin«, pflegte er zu sagen, wenn jemand seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab. »Dort, beim Pflanzen und Jäten und Gießen, werden von bejahrten Töchtern und rüstigen Witwen die brandneuesten Neuigkeiten umgeschlagen – und was die Lebendigen nicht wissen, das schwitzen die Toten aus.«
Wenn sie Pfeffer so reden hörte, musste Hilde insgeheim manchmal zugeben, dass er recht gewitzt und pfiffig war und die Dinge oft auf den Punkt brachte. Aber leiden konnte sie ihn trotzdem nicht.
Laut seinem Bericht war Dr. Stenglich am frühen Morgen im Haus des Bürgermeisters gewesen und hatte den Totenschein ausgestellt. Demnach war Anna Kaltenbach irgendwann während der Nacht verstorben.
Wann genau, das weiß vermutlich niemand, dachte Hilde.
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