Mord und Mandelbaiser
gereizten Dobermann. »Schon vergessen? Morgen in aller Herrgottsfrüh geht es los: Linz, Wien, Bratislava.«
»Aber ja.« Wally fiel wieder ein, dass Hilde mit dem Senioren-aktiv-Club, dessen Mitglied sie seit Neuestem war, morgen eine fünftägige Reise antrat.
»Du kommst am Dienstag erst zurück?«, vergewisserte sie sich.
»Spät abends«, bestätigte ihr Hilde.
Vielleicht ist das ganz gut so, dachte Wally. Es verschafft Thekla Zeit, sich zu erholen und sich mit ihrem Bruder zu besprechen. Hilde ist einfach zu ungeduldig.
Die hatte sich inzwischen bereits verabschiedet und aufgelegt.
Auch recht, dachte Wally, drückte die Küchentür fest ins Schloss und drehte das Radio laut auf. Howard Carpendales »Manchmal möchte ich schon mit dir …« troff aus dem Lautsprecher. Wally summte mit.
Sie liebte Howard Carpendale. Seine Stimme erinnerte sie an die Zeit vor vierzig Jahren, als sie noch schlank, attraktiv und begehrenswert gewesen war – ausgesprochen begehrenswert sogar, denn die Glupschaugen waren damals noch kindlich unschuldige Kulleraugen gewesen und verschafften ihrer Miene eine liebenswerte Arglosigkeit. Sie hatte damals eine ganze Menge Verehrer gehabt. Besonders in dem denkwürdigen Jahr, in dem sie bei den Agnes-Bernauer-Festspielen mitwirken durfte und eine so reizende Magd abgegeben hatte, dass sämtliche Zuschauer von ihr hingerissen gewesen waren.
In jenem Sommer war sie abends öfter aus gewesen als in den letzten zwei Jahrzehnten zusammengenommen. Franz Obermeier hatte ihr Rosen geschenkt, Georg Brandl ein Kettchen mit herzförmigem Anhänger. Hannes Hintergruber hatte ihr eine Reise ins Burgenland versprochen, und Sepp Maibier hatte gesagt: »Wenn du mich heiratest, baue ich neben dem Sägemehlgebläse ein Haus für uns.«
Das Sägemehlgebläse war inzwischen mehrmals modernisiert worden, arbeitete mittlerweile fast unhörbar und hatte etliche hochempfindliche Feinstaubfilter. Im Haus aber waren im Laufe der Zeit die Wände vergilbt, die Fußböden zeigten sich abgetreten – und Wally brachte doppelt so viel Gewicht auf die Waage wie damals, als sie das frisch verlegte Parkett zum ersten Mal gewischt hatte, wonach ihr Ehemann sie fragte, ob sie zu blöd sei, einen Putzlappen auszuwringen: »Feucht habe ich gesagt, nicht tropfnass.«
»Bayern eins am Abend. Die beste Musik für Bayern, und weiter geht es mit Peter Maffay …«
Schlagermusik, Wallys ganzes Entzücken. Carpendale, Nena, aber auch Frank Sinatra, Rainhard Fendrich und – Elvis … Am liebsten lauschte ihnen Wally in der Küche, denn da blieb sie meist ungestört.
Und während sie deutsche Schlager mitsang, probierte sie Backrezepte aus – Kuchen, Torten, Plätzchen, Hefeteilchen. Sie selbst war die begeistertste Konsumentin ihrer Produkte, aber auch ihr Mann und ihre Söhne langten kräftig hin.
Die Produkte aus ihrer Backstube waren das Einzige, wofür Wally von ihrer Familie manchmal gelobt wurde. Kein Wunder also, dass sie ihren ganzen Ehrgeiz darauf verwandte. Die Plätzchen mussten noch niedlicher werden, die Kuchen saftiger, die Torten exotischer.
In jenem intensiven Streben nach Anerkennung lag wohl auch der Grund dafür, dass Wally es sich neuerdings in den Kopf gesetzt hatte, eine Agnes-Bernauer-Torte zu fabrizieren. Eine, wie sie in der Krönner’schen Konditorei hergestellt und im Krönner’schen Café als einzigartig verkauft wurde.
Der dafür winkende Beifall schien ihr die Mühe wert.
Sepp Maibier und die Söhne würden ihr zu Füßen liegen. Die Krönners würden von den Socken sein. Mochten sie auch die Zutatenliste für ihre Spezialität in Fort Knox bewachen lassen, Wally hatte ja Augen im Kopf und Geschmacksnerven auf der Zunge. Auch für die Krönners fielen keine göttlichen Ingredienzien vom Himmel. Ja, alle würden staunen. Auch Thekla – ach, Thekla vielleicht am meisten.
Walli rührte ein halbes Pfund Butter schaumig, wobei sie sich freudiger Erwartung hingab.
Wenn meine Agnes-Bernauer-Torte so gut gelingt – und warum sollte sie das nicht –, dass nicht einmal Thekla sie von der echten unterscheiden kann, sinnierte sie, dann werden ihr die Augen mal aufgehen. Dann wird sie mir endlich Respekt entgegenbringen müssen und nicht mehr so tun können, als hätte ich nicht das kleinste bisschen Grütze im Kopf. Und selbst Hilde wird – obwohl sie sich aus Konditorwaren nichts macht – zutiefst beeindruckt sein. So beeindruckt sogar, dass sie wochenlang von nichts anderem sprechen wird,
Weitere Kostenlose Bücher