Mord und Mandelbaiser
bewusst geworden, was das gänzliche Fehlen von Atemzügen zu bedeuten hatte.
»Mama, was ist denn mit dir?«, rief Wally, als sie am nächsten Morgen deren Zimmer betrat. Sie hastete zum Bett, beugte sich über ihre Mutter, registrierte die hängende Kinnlade, die eingefallenen Wangen, die offensichtliche Starre der Glieder, die Kälte sowie den Geruch, der aufstieg, und stieß dann einen lang gezogenen Schrei aus.
»Hat mir lang genug auf der Tasche gelegen, die Alte«, raunzte Wallys Mann und fügte eine Sekunde später hinzu: »Ich ruf den Stenglich an, damit er herkommt und den Totenschein ausstellt.«
Wally wischte die unablässig fließenden Tränen weg. »Du musst auch beim Bestattungsinstitut Westhöll anrufen, Sepp, oder lass es mich tun – bitte. Der Rudolf soll die Mama schön herrichten, und dann suchen wir einen feinen Sarg für sie aus.«
»Schön herrichten«, äffte ihr Mann sie nach. »Ich bezahle ganz bestimmt keinen dafür, dass er die Alte wäscht und anzieht, den Westhöll schon gar nicht. Früher haben die Familien ihre Toten immer selbst versorgt. Meinem Großvater habe ich auf dem Totenbett die Haare gekämmt, da war ich zehn. Und meinen Vater …« Er winkte unwillig ab, als lohne es nicht, Wally davon zu erzählen. »Und für die Bestattung nehmen wir den Moosbacher, damit du’s weißt.«
Nach einer kurzen Pause, während der er offenbar über das weitere Vorgehen nachgedacht hatte, begann er, Anordnungen zu treffen: »Du holst jetzt das Kleid her, das schon lange für den Sterbefall vorgesehen ist, Schuhe, Strümpfe, Unterwäsche – und einen Rosenkranz. Sobald der Doktor fertig ist, legen wir los. Stell dich jetzt bloß nicht an.« Er schoss einen herrischen Blick auf sie ab und fügte hinzu: »Und wage nicht, uns den Westhöll oder gar seine Tante, diese alte Scharteke, ins Haus zu holen.«
Stenglich kam unverzüglich, und ebenso unverzüglich verabschiedete er sich wieder, nachdem er, ohne lange zu fackeln, den Totenschein ausgestellt hatte.
»Eine Schüssel warmes Wasser mit reichlich Duschgel«, verlangte Wallis Mann.
Obwohl er mit der Toten nicht gerade zimperlich umging (»Hab dich nicht, sie spürt ja nichts mehr«), musste Wally zugeben, dass es recht fachkundig wirkte, was er machte. Ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu reizen, befolgte sie hastig und so sorgfältig, wie sie es vermochte, seine knappen Befehle.
»Und jetzt rollst du die Strümpfe hoch – bis kurz übers Knie bloß, das reicht ja.«
Erst als Wally ihrer toten Mutter den zweiten Strumpf anzog, entdeckte sie den Fleck. Er sah aus wie ein Grüppchen Brandblasen und befand sich auf der Innenseite des Knies.
Sie zog ihren Mann am Ärmel. »Schau!«
»Was?«, fragte er ungehalten.
Sie deutete anklagend auf den Fleck.
Ihr Mann warf einen Blick darauf, schaute sie an, tippte sich an die Stirn und knöpfte der Toten das Kleid zu.
Wally tat, als würde sie den Strumpf noch einmal glätten, den sie ihrer Mutter übers linke Bein gestreift hatte, und musterte das Knie. Auf der Innenseite, genau an derselben Stelle wie beim rechten, befand sich ein gleichartiger Fleck.
Hat etwa meine Mama auch die verdächtigen Male, von denen Hilde gesprochen hat?, fragte sie sich und machte sich klar, dass nur Rudolf Westhöll eine Antwort darauf geben konnte.
Erneut zupfte sie ihren Mann am Ärmel. »Sepp.«
Er warf ihr einen unwilligen Blick zu.
»Sepp, der Granzbacher Bestatter, der Westhöll, ist viel vertrauenswürdiger als der Moosbacher. Du weißt doch, dass der seinen Müll immer –«
»Na und«, unterbrach sie ihr Mann. »Hat keinem geschadet.« Er sah sie geringschätzig an. »Du kapierst es einfach nicht. Den Auftrag bekommt derjenige, der mit mir im Geschäft ist, und das ist der Moosbacher. Der Moosbacher hat eine Vitrine für seinen Ausstellungsraum bei uns anfertigen lassen. Der Westhöll bestellt sich seine Schaukästen bei Kraus in Granzbach.«
Wally seufzte. Ihr Mann würde nicht nachgeben – nicht für alles Bitten der Welt. Er hatte seine Grundsätze.
»Fertig für den Bestatter«, verkündete Sepp Maibier im nächsten Moment. »Ich sag dem Moosbacher Bescheid, dass er sie abholen kann.«
Als Wally laut aufschluchzte, ließ er sie stehen und ging zur Tür. Dort drehte er sich allerdings noch mal um.
»Räum gefälligst auf, bevor jemand hereinkommt und den Saustall sieht.«
Tränenblind griff Wally nach benutzten Kleenextüchern und schmutzigen Wäschestücken und begann, alles in einen
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