Mord und Mandelbaiser
Meiler an seine Kunden?«, fragte Thekla. »Er wird wohl kaum in der Zeitung inseriert haben.«
Zwischen Hildes Augen entstanden zwei senkrechte Falten, die auf höchste Konzentration schließen ließen.
So hat sie in der Schule auch immer ausgesehen, dachte Thekla, besonders während gewisser Deutschschulaufgaben. Schilderungen und Interpretationen sind nie ihre Stärke gewesen. Inhaltsangaben schon eher.
Plötzlich sah sie es in Hildes Augen entzückt aufblitzen. »Lanz! Der Dichter hat das Zeug vertickt.«
Lanz passt ins Bild, überlegte Thekla von Hildes Schlussfolgerung beeindruckt. Er ist ja sogar als Quelle für den Saft genannt worden. Und ihm wäre so ein makabres Geschäft zuzutrauen. Wer so schlechte Verse produziert, schreckt vor nichts zurück. Aber aus welchem Grund sollte er das getan haben?
»Der Dichter hatte genügend Kontakte, genügend Bekannte, genügend Gefolgschaft«, sagte Hilde gerade, »um unter der Hand Reklame für Meilers speziellen Birnensaft zu machen.«
Wally hatte dem Wortwechsel mit schreckgeweiteten Augen zugehört, hatte den Teller mit dem zerbröselten Plundergebäck weit von sich geschoben und rutschte jetzt unruhig auf ihrem Stuhl herum.
Hilde sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Der Sepp«, stieß Wally hervor, »der Sepp hat mir doch erzählt, dass er das Fläschchen Birnensaft, aus dem ich der Mama eingeschenkt habe, von Gerlinde Lanz bekommen hat.«
Lanz, dachte Thekla. Der rechtswidrige Handel mit einer Substanz, die zur aktiven Sterbehilfe geeignet ist, würde den Wohlstand erklären, von dem das Anwesen des Dichters zeugt. Und der riesige Bekanntenkreis, auf den die Menschenmenge bei seiner Beerdigung schließen ließ, gibt Anlass zu der Mutmaßung, dass es ihm an potenzieller Kundschaft nicht gemangelt hat.
Einen Moment lang fühlte sie sich an jenen Nachmittag vor zwei Wochen zurückversetzt, an dem der Dichter beerdigt worden war. Sie selbst hatte zwar in der Stein’schen Apotheke Dienst getan und Martin das Repräsentieren überlassen, aber das Ereignis war in Moosbach tagelang kommentiert worden.
Dem Anschein nach war der ganze Landkreis auf den Beinen gewesen, sogar aus den Nachbarbezirken waren Leute zum Granzbacher Kirchplatz geströmt. Kurz vor Beginn der Trauerfeier war zum allgemeinen Erstaunen noch ein Reisebus auf den Kirchplatz eingebogen und hatte ernst dreinblickende Männer in schwarzen Mänteln ausgespuckt, die sich vor dem Kirchenportal zu einem Spalier aufreihten. Sie standen stramm, bis der Sarg, den man – was bei Gott vollkommen unüblich war – vom Leichenschauhaus zur Kirche gebracht hatte, an ihnen vorübergetragen worden war, dann folgten sie ihm mit undurchdringlichen Gesichtern ins Kirchenschiff.
Wie Hilde schon angekündigt hatte, quoll der Altarraum schier über vor weißen Lilien, selbst im Kirchenschiff waren Hunderte von Kübeln mit den Totenblumen verteilt. Im Auftrag der Witwe hatte Rudolf Westhöll ein Kondolenzbuch vorbereitet und einen professionellen Trauerredner engagiert. Die Sargträger trugen weiße Handschuhe, die sie letztlich ins Grab warfen, nachdem sie den Sarg hinuntergelassen hatten. Bei der Trauerfeier hatte ein Kammermusikorchester gespielt, auf dem Friedhof ein Waldhornquartett.
Ja, dachte Thekla, das Begräbnis muss tatsächlich einen stolzen Preis gehabt haben, wobei ihr einfiel, wie Hilde von Rudolfs Bemühungen, die Leiche des Dichters standesgemäß herzurichten, erzählt hatte. Und in diesem Moment kam ihr etwas Wesentliches zu Bewusstsein.
Hilde stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. »Hast du gehört?«
»Nein … ja … was hast du gesagt?« Thekla versuchte die Gedanken abzuschütteln, die plötzlich auf sie einstürmten.
»Ich habe gesagt«, erwiderte Hilde mit Betonung, »dass die Witwe des Dichters nach seinem Tod das lukrative Geschäft weiterbetrieben haben muss, weil ja Wallys Mann das Fläschchen Birnensaft offenbar von ihr bekommen hat – bei welcher Gelegenheit auch immer.«
»Das muss sie wohl«, antwortete Thekla versonnen.
Hilde sah sie scharf an. »Stimmt was nicht?«
»Eine ganze Menge«, erwiderte Thekla.
»Nämlich?«
Thekla rieb sich die Stirn. »Wenn der Dichter einer der Hauptakteure bei diesem ruchlosen Geschäft gewesen wäre, wie konnte er dann eines der Opfer werden? Wir sind doch auf die ganze Sache nur deshalb aufmerksam geworden, weil dein Neffe Holzer-Blasen an der Leiche des Dichters entdeckt hat.« Sie hörte Hilde zischend die Luft ausstoßen, fuhr
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