Mord und Mandelbaiser
schniefen hörte. Seufzend warf sie ihr einen Blick zu und bereute es sofort. Die arme Wally wirkte derart bedauernswert, dass Thekla die Lust an der Krönner’schen Spezialität verging.
Wally hatte sich bei Elisabeth ein winziges Stück Plundergebäck bestellt, das sie nun trübsinnig zerkrümelte, anstatt es zu essen. Selbstredend gab allein schon dieses Betragen Anlass genug zur Sorge. Darüber hinaus hatte Wally heute weder mintgrünen Lidschatten noch pinkfarbenen Lippenstift aufgetragen. Sie steckte in einer Schlabberhose mit Gummibund und einem unförmigen T-Shirt; die blondierten Haare, die dringend einer Nachbehandlung bedurften, hingen ihr strähnig in die Stirn. Wallys Mundwinkel zitterten wie Quittengelee, und jetzt lief ihr auch noch eine Träne über die Wange.
Thekla musste sich eingestehen, dass die Agnes-Bernauer-Torte heute das Nachsehen haben würde. Sie kannte Wally nun schon länger als ein halbes Jahrhundert, hatte sie jedoch erst ein einziges Mal derart zerrüttet erlebt. Damals – an einem Fronleichnamstag vor mehr als fünfzig Jahren – hatte Mater Serafina ihr den Teddy, der seit ihrem ersten Lebensjahr mit ihr im selben Bett schlief, weggenommen und gesagt: »Der liebe Gott will kluge, klaräugige Lämmer auf seiner Weide sehen, keine dummen, hirnlosen Schafe, die sich an kindische Kuscheltiere klammern«, womit sie Wally in eine tiefe Depression stürzte.
Thekla schluckte den Happen hinunter, der – schade, schade, schade – noch kaum zerkaut war, und sagte sich, dass der durchaus begründete Verdacht, ihre Mutter sei ermordet worden, Wally so niedergewalzt haben musste. Zeit genug, sich Gedanken darüber zu machen, hatte sie ja gehabt. Zudem fürchtete sie womöglich, Sepp Maibier könnte etwas damit zu tun haben.
Das Vorliegen eines Tötungsdelikts konnte man inzwischen wohl nicht mehr wegdeuteln, und beim heutigen Treffen würde das auch ganz klar ausgesprochen werden müssen. Thekla hatte allerdings nicht die Absicht, wie ein Marktschreier damit herauszuplatzen. Es hatte aber auch keinen Sinn, die Sache noch lange hinauszuzögern.
Sie legte die Kuchengabel mit einem Klirren auf den Tellerrand. »Also, was hat sich seit unserem letzten Treffen gezeigt?«
Wally schniefte peinlich laut. »Ein schreckliches Kuddelmuddel. Ein fürchterliches Durcheinander.«
Hilde warf ihr Besteck hin. »Einen Haufen krimineller Aktionen.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ehrlich gesagt geht es mir genauso wie Wally. Ich kann in den Abläufen und Geschehnissen kein klares Gefüge erkennen.« Sie stockte und sagte dann matt: »Ich kann überhaupt kein Gefüge erkennen.«
»Dann müssen wir uns eben eines zusammenbasteln«, erwiderte Thekla.
Hilde nickte. »Wir brauchen ein System.«
»Was denn für ein System?«, fragte Wally.
»Eine Gliederung, eine Zusammenfassung, einen Überblick«, erklärte ihr Hilde.
»Ordnung im Kopf«, präzisierte Thekla und fuhr bedächtig fort: »Alles hat damit begonnen, dass uns Hilde von ominösen Flecken erzählte, die ihr Neffe an Verstorbenen festgestellt hat. Wenn Dr. Friesing richtigliegt, werden solche Flecken durch eine Barbituratintoxikation verursacht.« Sie hob die rechte Hand, um die Bedeutsamkeit des Folgenden hervorzuheben. »Die Vergiftungen können nicht auf Zufall beruhen, weil in den üblichen Schlaf- und Beruhigungsmitteln keine Barbiturate mehr enthalten sind.«
Thekla unterbrach sich kurz und schaute in die Runde, registrierte Wallys verwirrten Glupschaugenblick und Hildes zustimmendes Nicken. Dann sprach sie weiter: »Aufgrund unserer Beobachtungen gestatten wir uns, davon auszugehen, dass den Verstorbenen Überdosen eines Beruhigungsmittels verabreicht wurden, das man in Meilers Birnensaft aufgelöst hatte, weil sich das offenbar recht süße Getränk gut dazu eignet, eine eventuell bittere Geschmackskomponente zu tarnen.« Wieder sah sie Hilde nicken. »Aber«, fuhr sie fort, »wie überzeugend ist die Birnensaftspur?«
Weil weder von Wally noch von Hilde eine Antwort kam, übernahm sie selbst die Erörterung der Frage. »Bei Wallys Mutter gab es eine direkte Aufeinanderfolge: Birnensaft getrunken, verstorben, mutmaßliche Holzer-Blasen aufgewiesen. Bei Babett Zankl war es allem Anschein nach ebenso. Bei Frau Kaltenbach wissen wir nur, dass sie vor ihrem Ableben Birnensaft getrunken hatte, aber nicht, ob sie Holzer-Blasen aufwies.«
Während Thekla sprach, war Hildes Kopf in die Höhe geschnellt. »Diese
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