Mord und Mandelbaiser
Feldschneise, bevor sie sich entschied, an deren Rand zu parken. Sie stieg aus, schaute sich um, benötigte jedoch eine ganze Weile, bis sie sich orientiert hatte. Eigentlich konnte das Flüsschen, das sie eben überquert hatte, nur der Moosbach sein.
Bestimmt ist er das, sagte sie sich nach nochmaligem Überlegen. Durch Granzbach fließt er ja nicht wie mit dem Lineal gezogen, sondern beschreibt diese Schleife, an deren Scheitelpunkt das Haus des Dichters liegt. Es wird gar nicht weit von hier entfernt sein.
Stirnrunzelnd warf sie einen Blick auf die beiden Häuserzeilen zurück, durch die sie gekommen war. Der Bach floss rückwärtig an der rechten Häuserzeile entlang, wo die Gärten liegen mussten. Er verschaffte den Besitzungen – zu denen auch das Meiler-Anwesen gehörte – eine natürliche Grenze, der leicht zu folgen war.
Und mit dieser Erkenntnis formte sich Theklas Plan: Sie würde so lange an dem den Grundstücken zugewandten Ufer des Moosbaches entlanggehen, bis sie zum Meiler-Garten gelangt war. Der würde ja wohl kaum zu verfehlen sein, da er ganz am Anfang der kleinen Straße lag.
Forsch schritt sie über das Brücklein zurück, fand dort, wo das Geländer endete, zugleich aber ein Bretterverhau begann, der einmal eine Scheune gewesen sein musste, einen schmalen Durchschlupf und kletterte die Böschung hinunter.
Statt an einem sandigen oder wenigstens kiesigen Bachufer landete sie in einem Dickicht.
Verärgert hangelte sich Thekla an Erlenzweigen entlang, schlitterte über bemooste Steine, verhedderte sich in Brombeerranken. Aus den Kratzern auf ihren Handrücken und Unterarmen tröpfelte bald Blut. Wenn sie es nicht überall auf ihrer Kleidung verschmieren wollte, musste sie es schleunigst abtupfen.
Ächzend ließ sie sich auf einem harten Graspolster nieder.
Gib auf, dachte sie, was hast du in Meilers Garten verloren? Falls er eingezäunt ist, kommst du sowieso nicht hinein.
Wider alle Vernunft erhob sie sich nach wenigen Minuten und kämpfte sich weiter, was sich letztendlich als erfolgreich erwies, denn plötzlich wurde das Vorwärtskommen einfacher, und wenig später endete der dschungelartige Bewuchs.
Vom linken Bachufer aus erstreckte sich ein gepflügter Acker weit nach Westen; am rechten – an dem sich Thekla befand – führte eine alte Treppe aus Feldsteinen zu einem Pfad hinauf, der an einer Thujenhecke entlangging. Dahinter mussten die Gärten liegen.
Thekla zählte sieben Hausdächer, die über die Hecke ragten. Das achte, überlegte sie, müsste das von Meilers Geschäft sein. Sie hatte also noch ein gutes Stück vor sich.
Eilig setzte sie sich in Bewegung, überlegte es sich jedoch im nächsten Moment anders, blieb stehen und versuchte, durch die Thujen zu spähen: Zweige, Blätter, Ranken, roh behauene Bretter – die Rückwand eines Schuppens vermutlich –, Maschendrahtzaun.
Keine Chance auf ein Durchkommen, dachte sie. Aber das muss ja nicht so bleiben.
Nach ein paar Schritten entdeckte sie das Gatter. Sie wollte es schon öffnen, als ihr einfiel, dass es wohl keinen Sinn hatte, einfach in einen der Gärten einzudringen. Erneut hob sie den Blick zu den Hausdächern und musste feststellen, dass zwischen diesem Gartenzugang und dem Meiler-Anwesen noch mindestens fünf andere Grundstücke lagen.
Als Thekla weiterlief, kam sie wieder zu einem Türchen und dann zu noch einem. Natürlich, alle Anwesen besaßen einen Zugang zum Wasser.
Die Besitzer sind doch nicht so dumm, sich selbst von kostenlosem Gieß- und Autowaschwasser abzuschneiden, frohlockte sie innerlich und hoffte, dass auch Meiler nicht so dumm gewesen war.
Das Gatter zum Meiler-Grundstück öffnete sich im selben Augenblick, in dem Thekla darauf zutrat. Eine mit Erdreich beladene Schubkarre erschien und dahinter ein Mann, den sie nicht kannte. Die Frau, die ihm über die Schulter spähte, kannte sie allerdings sehr wohl.
»Elisabeth! Was –« Thekla stockte, weil ihr einfiel, dass Elisabeth und ihr Mann ja die Nachbarn der Meilers waren, dann entspannte sie sich. »Hallo, Elisabeth.«
»Frau Stein, wie kommen Sie denn hierher?«, fragte Elisabeth perplex. Ihr Blick flog über das Feld, das am jenseitigen Ufer des Moosbachs begann und sich bis zur Autobahntrasse der A 3 nach Passau erstreckte.
Thekla deutete den schmalen Pfad an der Thujenhecke hinunter. »Ich habe einen Spaziergang am Moosbach entlang gemacht. Bin ich etwa in Ihren Garten geraten?«
Elisabeth verneinte. »Unser Grundstück liegt
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