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Mord und Mandelbaiser

Mord und Mandelbaiser

Titel: Mord und Mandelbaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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begleitet«, sagte er ernst. »Wie du sicherlich weißt, stammt es von meinem Vater – deinem Bruder. Er hat mir oft daraus vorgelesen, als ich noch ein Kind war.« Er trank den nächsten Schluck, dann hob er die rechte Hand, als könne er damit den folgenden Worten mehr Gewicht verleihen. »Eines ist sicher: Vater hat sich ausschließlich für die Entstehungsgeschichte der Welt und der Menschheit nach Maßgabe der Edda interessiert. Für mich gilt dasselbe. Es fasziniert mich außerordentlich, wie die nordischen Göttersagen die Schöpfungsgeschichte schreiben.«
    »Wie denn?«, fragte Hilde.
    Rudolf lachte laut heraus. »Ich fürchte, liebe Tante, um das zu erfahren, wirst du das Buch lesen müssen.« Daraufhin wurde er wieder ernst. »Es würde den ganzen Abend dauern, dich auch nur halbwegs ins Bild zu setzen, dir vom eisigen Niflheim und vom brennenden Muspelheim zu berichten, von dem Riesen Ymir, der sich aus dem See erhob, den das Feuer ins Eis geschmolzen hatte, von dem Eisblock, dem die Götter entsprungen sind, von der Schlacht, die sie sich mit dem Riesen lieferten, und von dem Blut, das dabei floss, in dem dann das ganze Riesengeschlecht ertrank.«
    »Nichts als Krieg und Gewalt und Grausamkeit«, entgegnete Hilde erbost.
    »Krieg, Gewalt, Grausamkeit«, wiederholte Rudolf versonnen. »Komplotte, Intrigen, Ränke. Davon leben sie, die Geschichten von den Anfängen der Menschheit. Zeus erhebt sich gegen seinen Vater, um das Regiment auf dem Olymp zu übernehmen, er begeht Ehebruch, um halb menschliche Bälger zu zeugen. Die Götter der Mayas und Azteken verlangen Blutopfer noch und noch. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Aus Untaten besteht die Saat, die uns Menschen hervorgebracht hat. Untaten, wie sie seit Anbeginn überall zu Hause sind.«
    Hilde hatte sich abgewandt, weil sie nichts mehr davon hören wollte. Denn, verdammt noch mal, Rudolf hatte recht. Das Leben nährte sich vom Tod. Ob Schöpfungsgeschichte oder Evolutionstheorie, das Starke machte aus dem Schwachen Kleinholz. Rudolfs Worte klangen wie ein Kehrreim in den Ohren. »Untaten, wie sie überall zu Hause sind. Wie sie überall zu Hause sind. Wie sie überall …«
    »Tante Hilde?« Sie schreckte auf. »Was hast du gesucht, Tante Hilde?«
    »Hinweise«, antwortete Hilde zerstreut.
    »Worauf?«, fragte Rudolf.
    Hilde riss sich zusammen und sah ihn couragiert an. »Auf ein Motiv beispielsweise, aus dem heraus ein Bestatter pflegebedürftige Alte ermorden würde.«
    Rudolf wirkte wie aus Stein gehauen, als er fragte: »Und hast du was gefunden?«
    Hilde nickte. »Ein Buch aus einer dunklen Zeit, in der Euthanasie – Gnadentod, wie es manchmal auch hieß – großgeschrieben wurde.«
    Rudolf atmete heftig aus. »Und du glaubst tatsächlich …«
    Bevor er zu Ende sprechen konnte, schüttelte Hilde den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«

Derselbe Tag
    Am Vormittag in Straubing
    »Merk es dir gut«, sagte Sepp Maibier. »Punkt zwei fahre ich wieder nach Hause. Und wenn du nicht auf die Minute zur Stelle bist, kannst du von mir aus den restlichen Tag im Zoo und die Nacht unter der Donaubrücke verbringen.«
    »Ich merk es mir ganz bestimmt«, versprach Wally, wobei sie bestätigend nickte, obwohl ihr Sepp bereits den Rücken zugewandt hatte und in Richtung Volksfestplatz davonging.
    Wally machte sich auf den Weg in die Stadt.
    Zuerst die Gardinen, dachte sie. Weil die mein Alibi sind. Erst wenn ich den Stoff bei der Näherin abgegeben habe, kann ich anfangen, die Apotheken abzuklappern.
    Es war sozusagen ein Glücksfall gewesen, dass Wallys Mann am Morgen verkündet hatte, in dem Büroraum neben der Werkstatt müssten neue Gardinen angebracht werden. »Was soll denn die Kundschaft für einen Eindruck von der Tischlerei Maibier bekommen, wenn solche alten Fetzen an den Fenstern hängen?«
    Und Wally hatte die Chance genutzt. »Ich würde ja liebend gern welche besorgen. Aber dazu müsste ich halt nach Straubing …«
    Maibier hatte sie taxierend angesehen, dann aber widerstrebend angeboten: »Ich hab heute bei den Ausstellungshallen am Hagen zu tun. Du kannst also mitkommen.«
    Aus lauter Erleichterung hatte Wally »Danke, Sepp, danke dir« gerufen, woraufhin er ihr einen irritierten Blick zuwarf.
    »Danke, liebe Himmelmutter«, flüsterte Wally jetzt, während sie im Kaufhaus Hafner die Treppe zur Gardinenabteilung hinaufstieg. »Danke, dass du mich einen Teil zu den Ermittlungen beitragen lässt. Wie würde ich denn wieder dastehen vor

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