Mord Unter Segeln
schon nicht rege, dann doch angelegentliche Betriebsamkeit. Die Temperaturen waren seit dem frühen Morgen angestiegen, die Fünfundzwanzig-Grad-Marke längst überschritten. Der Himmel war blau, und nur weiße Schäfchenwolken zogen darüber, vermischt mit den sich auflösenden Kondensstreifen von Flugzeugen. Eigentlich ein perfekter Tag. Dennoch fror Oda. Aber sie wusste, dass dieses Frieren von innen kam. Nach ein paar Minuten, sie waren kurz vor dem Bogen zum alten Jadebad, stoppte Jürgen. Auch Oda blieb stehen, sagte kein Wort. Jetzt also kam es. Jetzt würde er ihr sagen, dass er sie doch nicht genug mochte, um mit ihr zusammenzuziehen. Stumm sah sie ihn an.
»Ich hab den ganzen Vormittag überlegt, wie ich es dir sagen soll«, begann Jürgen den Text, den wohl schon Hunderttausende Männer vor ihm abgelassen hatten, »aber ich denke, der direkte Weg ist der beste.«
Oda presste die Lippen aufeinander.
Die Luft über dem Kanal enthielt heute jenen Geruch, den sie den Austern zuschrieb, die sie zwar nicht essen mochte, die aber seit ein paar Jahren an der Nordseeküste heimisch geworden waren. Warum ihr das in diesem Moment einfiel, wusste sie nicht, sie schob es einfach darauf, dass ein Teil ihres Hirns sich nicht mit dem auseinandersetzen wollte, was Jürgen ihr jetzt sagen würde.
»Ich habe eine Tochter, Oda. Eine fünfzehnjährige Tochter.« Jürgen atmete schwer aus und blickte an ihr vorbei aufs Wasser.
Eine Tochter. Diese beiden Worte wirbelten durch ihren Kopf wie die Bildschirmschonerschlange bei Windows, ohne dass sie begriff, was sie bedeuteten. Er hat nicht gesagt, dass es aus ist, er hat nur gesagt, er hat eine Tochter. Alles ist gut, er macht nicht Schluss. Er hat nur … eine Tochter. Bevor Oda das eben Realisierte in eine Antwort umwandeln konnte, klingelte ihr Handy. Vollkommen von der Rolle warf sie einen Blick darauf. Nieksteit.
»Entschuldige«, sagte sie mit heiserer Stimme, nahm das Gespräch an und entfernte sich ein paar Schritte. »Ja?«
»Oda? Bist du das?« Nieksteits Stimme klang aufgeregt. Und laut. Ihr Ohr war empfindlich nach Jürgens letztem Satz. Er hatte eine Tochter. Sie waren seit über anderthalb Jahren zusammen, warum hatte er ihr bislang nichts davon erzählt?
»Oda?«
»Ja, verdammt. Was gibt's denn?«
»Wir wissen, wer die Leiche ist, zumindest sieht es so aus. Gerade kam eine Fahndungsausschreibung herein. Die Beschreibung der als vermisst gemeldeten Frau passt auf unsere Tote. Es ist eine Pensionswirtin von Langeoog.«
»Aha.« Pause. In Odas Kopf befand sich derzeit lediglich ein Vakuum.
»Oda? Bist du noch da?« Nieksteit klang ungeduldig. »Ich hab gesagt, es scheint, als ob wir wissen, wer die Leiche ist.«
»Ja.« Oda schüttelte sich. Privat war privat und Dienst war Dienst. Jetzt war Dienst dran, das Private musste warten. »Danke«, sagte sie mit einer Inbrunst, die Nieksteit sicher überhaupt nicht nachvollziehen konnte, »ich komme sofort.«
Das »So eilig ist es nun auch nicht« ihres Kollegen hörte sie schon nicht mehr, so schnell hatte sie das Gespräch beendet.
»Das war Nieksteit«, erklärte sie. »Wir wissen jetzt, wer die Leiche ist. Ich muss wieder zurück.«
Jürgen nickte hilflos. »Du meldest dich?«
»Klar.« Oda steckte die Hände in die Vordertaschen ihrer Jeans und lief, ohne sich umzudrehen, zurück zu ihrem Fahrrad. Nur einmal hatte sie sich so leer gefühlt wie jetzt. Damals, als Thorsten ihr gesagt hatte, dass er die Scheidung wollte.
Als sie wieder in der Polizeiinspektion war, telefonierten sowohl Nieksteit als auch Lemke. Mit Gewalt schob Oda jeden Gedanken an Jürgen beiseite. Das musste bis nach Feierabend warten.
»Rührt bitte nichts an«, forderte Nieksteit gerade. »Wir schicken unsere Leute, sobald der Ehemann die Tote identifiziert hat.«
Sein Gesprächspartner – Oda vermutete, es war der Inselpolizist – musste etwas angefasst reagiert haben, denn Nieksteit wiegelte ab: »Weiß ich doch, dass ihr das natürlich wisst. Aber bei euch ist doch jetzt Hochkonjunktur, und wenn ihr als Verstärkung irgendwelche Grünschnäbel dabeihabt … Nee, ist schon klar, solche Dinge übernimmst du selbst. Ich mach mir ja auch keine Sorgen. Ist denn viel los bei euch? … Knapp neuntausend. Meine Güte. Da seid ihr Insulaner ja echt in der Minderzahl. Na, dann man zu. Ich ruf noch mal an, wenn unsere Leute kommen, und in Wittmund sagen wir auch Bescheid. Ich denk, Christine Cordes und Oda Wagner werden selbst zu euch
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