Mord Unter Segeln
Körperseite gelähmt. Wir arbeiten an deren Reaktivierung und haben auch einige Fortschritte verzeichnet, nur geht das nicht von heute auf morgen. Jedenfalls waren wir wegen des Therapieverlaufs guter Dinge und konnten Dr. Harpstedt vor zwei Monaten sogar nach Hause entlassen. Er sollte weiterhin ambulante Physiotherapietermine hier im Haus wahrnehmen. Aber nur zwei Tage nachdem Herr Harpstedt wieder daheim war, erlitt er einen Herzinfarkt und stürzte derart unglücklich, dass er sich dabei eine Tibiakopf-Fraktur zuzog.«
»Tibia-was?«, fragte Oda.
»Eine Fraktur des Schienbeinkopfes.«
»Aha.«
»Das ist eine schwerwiegende Verletzung des Kniegelenkes. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, aber der Bruch wurde operiert und mittels einer Schraubenosteosynthese mit Metallverbindungen stabilisiert.«
»Das sagt mir jetzt natürlich viel«, stellte Oda ironisch fest.
»Was ich damit sagen will, ist, dass Dr. Harpstedt sein Bein nicht belasten darf. Er könnte es auch gar nicht, ohne höllische Schmerzen zu haben.«
»Das heißt –«, setzte Oda an, wurde jedoch durch eine Bewegung von Harpstedt unterbrochen, der wortlos die Wolldecke anhob. Eine schwarze Schiene umgab sein rechtes Bein vom Oberschenkel bis zum Knöchel.
***
Gemeinsam mit Jürgen wartete Alex beim ehemaligen C&A-Gebäude auf die Ankunft des Nahverkehr-Busses. Im Zuge der Sanierung zur Zweigleisigkeit der Bahnstrecke Wilhelmshaven–Oldenburg wegen des Jade-Weser-Ports lief auf der Schiene gar nichts mehr. Zumindest nicht ab Wilhelmshaven. Aber die Zeit, bis der Zugverkehr wieder aufgenommen werden konnte, war absehbar, das zumindest versprach die Bahn, und jeder Wilhelmshavener hoffte, dass sie eher kürzer denn länger währen würde.
»Nun bleib mal ganz ruhig«, sagte Alex, der bemerkte, dass Jürgen zusehends aufgeregter wurde. »Ist alles halb so wild.«
»Du hast gut reden.« Jürgen streckte sich. »Weißt du, man fühlt sich ziemlich seltsam, wenn man sein Kind nach fünfzehn langen Jahren des Wartens und Stillhaltens das erste Mal sieht. Noch dazu in so einer verqueren Situation. Was soll ich denn mit Laura machen? Zu Hause herrscht das absolute Chaos, alles ist voller Umzugskartons, und morgen kommen wir in eine halb fertige Wohnung, weil die andere Hälfte noch nicht einziehen will. Ach, Mist! Es ist alles einfach nur verdammter Mist.«
»Jo. Aber nun reg dich mal wieder ab. Ich bin ja bei dir.« Alex guckte nach links und grinste. »Da kommt er.«
»Er?«
»Der Bus.«
»Na dann.« Jürgen atmete hörbar ein.
Kurz darauf quoll eine Traube Menschen auf den Bürgersteig, der Bus musste voll besetzt gewesen sein. Ob man jetzt zumindest ausreichend Platz anbot? Bei der Bahn war es auch vor den Baumaßnahmen in Stoßzeiten zu Überfüllung gekommen, manch einer hatte sich darüber geärgert, dass dann nicht einfach ein Waggon mehr angehängt wurde. Nein, Alex mochte nicht daran denken, dass auch er bald mit dem Bus erst nach Oldenburg fahren musste, wenn die Bundesliga-Saison wieder anfing und er nach Bremen zu den Werder-Heimspielen wollte. Vergnüglich stellte er sich das nicht vor. Egal, das war jetzt nicht das Thema. Aufmerksam beobachtete er die Aussteigenden und spürte die Anspannung beinahe so wie Jürgen. Was würde auf sie zukommen? Jetzt, in diesem Augenblick, da Jürgens Tochter noch nicht Realität geworden, sondern noch in der Anonymität der aussteigenden Fahrgäste verborgen war, war Alex froh, Jürgen beiseitestehen zu können. Alles würde gut, sie waren ein Team, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen.
Immer noch stiegen Menschen aus. Jüngere mit Aktentaschen, Ältere. Gerade als Jürgen sagte: »Sie wird den Bus verpasst haben«, stieg eine junge Frau aus. Quer über der Schulter trug sie eine knallrote Laptoptasche mit der Aufschrift »Vienna: Cool city, isn't it?«, die blickdichte lilafarbene Strumpfhose hatte am Oberschenkel und kurz unterhalb des Knies Löcher, die Füße steckten trotz der Julihitze in dicken dunkelbraunen Stiefeletten. Obenrum trug sie ein giftgrünes Tanktop über einem schwarzen T-Shirt.
»Na, dann mal herzlich willkommen, Laura«, raunte Alex und stupste Jürgen an. Amüsiert beobachtete er, wie der auf das Mädchen zuging. Echt zu niedlich, wie er das machte. So unbeholfen. Alex schob ein neues Kaugummi ein und ging auf die beiden zu, die offensichtlich nicht wussten, wie sie eine Unterhaltung miteinander anfangen sollten. Konnte er sich gut vorstellen. Da hatte Laura
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