Mord zur Bescherung
junge Ehefrau und ein Baby hatte. Zumindest hatte Carl ihr das nicht angetan. Er war einfach mitten auf dem Atlantik ertrunken. Seine Leiche hatte man nie gefunden.
Eine weitere schreckliche Möglichkeit fiel ihr ein. Auch dieses Klischee schien aus einer amerikanischen Seifenoper zu stammen. »Hi Honey. Da bin ich wieder. Ich bin nicht tot. Es war alles ein Irrtum. Es war mein Zwillingsbruder, der da ertrunken ist.«
Es wurde ihr heiß und kalt, während sie versuchte, dieses Bild wieder zu verdrängen.
Sie bemerkte, dass der Umschlag wegen des Dampfes aus dem Fußbad langsam ganz weich wurde, und legte ihn zur Seite.
Dann trocknete sie ihre Zehen ab, deren Haut ganz zart geworden war, und rieb ihre Fersen mit Vaseline ein – billiger als jede Creme und sehr effektiv –, ehe sie ihren Füßen noch ein paar Kleckse Creme von Molton Brown spendierte. Die Vaseline leistete die Vorarbeit in der Tiefe, unddas teure Produkt roch wunderbar und schenkte ihrem vom Winterwetter mitgenommenen Spann einen matten Glanz.
Jetzt wandte sie sich dem Brief zu, öffnete ihn und begann zu lesen.
Liebe Mrs. Driver,
wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, da es schon einige Jahre her ist, dass Ihr Mann und ich … «
Honey erblasste. Der Brief teilte noch einmal die Ankunftszeit eines gewissen Professor Jake Truebody mit. Er hatte vor einigen Wochen für die Weihnachtsferien per E-Mail ein Zimmer im Green River reserviert und auch eine Buchungsbestätigung erhalten.
Honey wurde ganz kalt.
Genau in diesem Augenblick kam Lindsey ins Kutscherhäuschen gestürmt. Natürlich hatte das Gebäude nichts mehr mit dem Ort gemein, der einst für die Kutsche und die Pferde und den Kutscher reserviert war. Im Untergeschoss befanden sich die Schlafzimmer und das Bad, die Küche und das Wohnzimmer waren oben, damit man die schöne Aussicht und das Licht hatte – im Wohnzimmer mehr als in der Küche. Von dort sah man nämlich nur auf Kamine und Mansardendächer.
Lindsey schaute Honey an. »Was ist denn mit deinem Gesicht los?«
Honey überschlug sich mit ihrer Antwort. »Das liegt am Dampf. Dann werden meine Wangen immer ganz rosig.«
»Die sind aber nicht rosig, sondern bleich. Als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Das ist die Haarfarbe. Die macht mich so blass.«
»Ah! Das stimmt wirklich.«
»Wenn ich keinen Termin in einem Frisörsalon kriege, werde ich über Weihnachten wohl einen Glockenhut tragen. Ich bin sicher, Mutter kann das passende Kleid aus denzwanziger Jahren dazu für mich finden – oder so was Ähnliches.«
»Das ist jetzt nicht mehr so einfach für sie, weil sie nicht mehr im Second-Hand-Geschäft ist.«
Da stimmte Honey ihr zu. Ihre Mutter war bis vor kurzem Partnerin in einem Laden gewesen, der hochwertige Kleidung aus zweiter Hand verkaufte. Neulich hatte sie jedoch verkündet, sie hätte sich jetzt auf eine andere Geschäftsidee verlegt. Worin die bestand, darüber wahrte sie auch nach einigen Fragen Stillschweigen. »Ihr werdet alles schon rechtzeitig erfahren«, hatte sie ihnen mit gerümpfter Nase und klappernden Augendeckeln erwidert.
Honey räusperte sich. »Lindsey, da kommt ein Mann über Weihnachten als Gast ins Hotel.«
»Na, das ist aber mal eine Überraschung. Meiner Erfahrung nach, Mutter, sind die Gäste gewöhnlich das eine oder das andere – Mann oder Frau. Was ist denn an diesem Mann so besonders?«
»Nichts. Er ist Amerikaner.«
Lindsey schaute belustigt drein. »Daraus können wir ihm eigentlich keinen Vorwurf machen.«
Honey räusperte sich ein zweites Mal. »Es ist ein gewisser Professor Jake Truebody.«
»Ich weiß.«
»Wirklich?«
»Ich habe heute Morgen die Reservierungsliste durchgeschaut.«
Lindsey war effizient wie immer. Nichts brachte sie aus der Ruhe. Aber jetzt kam es hart auf hart.
»Er behauptet, er wäre ein alter Freund deines Vaters.«
Lindsey verriet ihre Gefühle nur dadurch, dass ihr Lächeln ein wenig gezwungen wirkte. Die Nachricht hatte sie nicht kaltgelassen, aber kaum umgeworfen.
Sie nickte bedächtig. »Ich verstehe. Kommt er dich besuchen?«
»Ich glaube nicht. Ich kenne den Mann nicht. Zumindest denke ich das. Der Name sagt mir gar nichts.«
»Warum kommt er dann?«
Honey zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Er scheint mir ziemlich seltsam zu sein, und er ist wohl auch ein Angeber.«
»Ein Angeber?« Lindsey runzelte die Stirn und nahm den Brief in die Hand. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie die wunderschöne
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