Morddeutung: Roman (German Edition)
strich die lindernde Salbe des Arztes auf Noras Brandwunde. »Aber du musst es ihnen sagen.«
»Was muss ich sagen?«
»Dass du das alles selbst getan hast. Du warst so wütend auf uns: auf George, deine Mutter, deinen Vater, sogar auf mich. Du wolltest dich an uns rächen.«
»Nein, auf dich könnte ich nie böse sein.«
»Ach mein Liebling, und ich nicht auf dich.« Clara wandte sich den beiden Schnittwunden auf Noras Schenkeln zu. Auch dort verrieb sie mit sanft kreisenden Fingern die Salbe des Arztes. »Aber du musst es ihnen jetzt sagen. Sag ihnen, wie leid dir das alles tut. Danach wirst du dich viel leichter fühlen, glaub mir. Und dann kannst du so lang mit mir verreisen, wie du willst.«
Selbst der Coroner, ein Mann von äußerst sprunghaftem Temperament, wechselte nur selten so schnell von Wut zu Euphorie zu Niedergeschlagenheit, wie er es bei Detective Littlemores Bericht über die Ereignisse im Haus der Actons tat.
Littlemore hatte sich bemüht, das Interesse des Coroners an Elsie Sigel zu wecken, doch Hugel wischte das Thema einfach vom Tisch. Der Coroner hatte nur zufällig durch einen der Boten von der Aufregung bei den Actons gehört. Daher sein Zorn: Warum hatten sie Littlemore verständigt und nicht ihn? Dann, als er Noras Geschichte hörte, stieß er Triumphschreie aus wie »Ha!«, »Jetzt haben wir ihn!« und »Ich hab’s Ihnen gesagt!«. Doch als er schließlich von der Entdeckung des Lippenstifts, der Zigaretten und der Peitsche erfuhr, die im Zimmer des Mädchens versteckt gewesen waren, sank er schlaff auf seinem Stuhl zusammen.
»Es ist vorbei.« Hugels Gesicht verdüsterte sich. »Das Mädchen gehört in eine Anstalt.«
»Nein, warten Sie, Mr. Hugel. Hören Sie mir zu.« Und Littlemore erzählte dem Coroner von dem Fund der Krawattennadel.
Hugel schien die Nachricht kaum zu registrieren. »Zu wenig, zu spät.« Er stieß ein erbittertes Ächzen aus. »Und ich habe ihr jedes Wort geglaubt. Dieses Mädchen muss wirklich in eine Anstalt.«
»Sie meinen, sie ist verrückt?«
Der Coroner holte tief Luft. »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer rasiermesserscharfen Logik, Detective. Der Fall Riverford-Acton ist damit abgeschlossen. Benachrichtigen Sie bitte den Bürgermeister. Ich will nicht mit ihm reden.«
Der Detective blinzelte verständnislos. »Sie können den Fall doch nicht einfach abschließen, Mr. Hugel.«
»Es gibt ja überhaupt keinen Fall«, zischte der Coroner. »Ohne Corpus Delicti kann ich nicht wegen Mordes ermitteln. Geht das nicht in Ihren Schädel? Ohne Leiche kein Mord. Und ohne Überfall kann ich nicht wegen Überfall ermitteln. Oder sollen wir Miss Acton wegen tätlichen Angriffs auf sich selbst anklagen?«
»Warten Sie, Mr. Hugel. Da ist noch was anderes. Erinnern Sie sich noch an den schwarzhaarigen Mann? Ich habe rausgefunden, wo er hingefahren ist. Zuerst ist er zum Hotel Manhattan – merkwürdig, was? – und dann in einen Puff an der Fortieth Street. Ich hab selbst in dem Puff vorbeigeschaut, und die Lady dort hat mir das mit Harry Thaw gesteckt, der …«
»Was reden Sie da überhaupt, Littlemore?«
»Von Harry Thaw. Der Kerl, der Stanford White ermordet hat.«
»Ich weiß, wer Harry Thaw ist.« Der Coroner hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen.
»Sie werden es nicht glauben, Mr. Hugel, aber wenn der Chinese nicht der Mörder ist, könnte vielleicht Harry Thaw unser Mann sein.«
»Harry Thaw.«
»Er ist doch damals vor Gericht davongekommen, erinnern Sie sich noch? Wurde freigesprochen. Also, bei dem Prozess hat seine Frau eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, und …«
»Möchten Sie vielleicht auch noch Harry Houdini ins Spiel bringen?«
»Houdini? Houdini ist doch der Entfesselungskünstler, Mr. Hugel.«
»Ich weiß, wer Houdini ist.« Der Coroner klang gefährlich leise.
»Warum soll ich ihn ins Spiel bringen?«, fragte Littlemore.
»Weil Harry Thaw hinter Schloss und Riegel ist, Detective. Er wurde nicht freigesprochen, sondern für unzurechnungsfähig erklärt. Er sitzt im Matteawan State Hospital für geisteskranke Straftäter.«
»Tatsächlich? Ich dachte, sie haben ihn laufen lassen. Aber dann … dann kann er es nicht gewesen sein.«
»Nein.«
»Das kapier ich nicht. Diese Lady in dem Haus, wo der schwarzhaarige Mann hingegangen ist …«
Dem Coroner platzte der Kragen. » Vergessen Sie endlich diesen schwarzhaarigen Mann! Warum hört mir eigentlich nie jemand zu? Ich schreibe einen Bericht, und keiner liest ihn. Ich
Weitere Kostenlose Bücher