Morddeutung: Roman (German Edition)
der kleinen verwesenden Leiche auf dem Marmortisch. »Sie ist es«, stellte Mr. Sigel mit leiser Stimme fest.
Als die beiden Männer ins Wartezimmer zurückkehrten, bedachte Mr. Sigel seine Frau mit einem harten, anklagenden Blick. Sie verstand sofort und brach zusammen. Erst nach längerer Zeit konnte sie beruhigt werden. Dann erzählte ihr Mann die Geschichte.
Mrs. Sigel missionierte in Chinatown. Schon seit Jahren bemühte sie sich, die heidnischen Chinesen zum Christentum zu bekehren. Letzten Dezember hatte sie Elsie zum ersten Mal ins Missionshaus mitgenommen. Elsie hatte sich mit einer Leidenschaft in die Arbeit gestürzt, die ihre Mutter entzückte, aber ihren Vater beunruhigte. Obwohl Mr. Sigel strikt dagegen war, fuhr das Mädchen bald ganz allein mehrmals pro Woche nach Chinatown und unterrichtete am Sonntag ihre eigenen Bibelklassen. Einer ihrer eifrigsten Schüler, erinnerte sich Mr. Sigel voller Bitterkeit, hatte es vor einigen Monaten sogar gewagt, vor ihrem Haus zu erscheinen. Mr. Sigel kannte seinen Namen nicht. Littlemore zeigte ihm eine Fotografie von William Leon, und der Vater schloss nickend die Augen.
Nachdem die Sigels das Leichenschauhaus verlassen hatten, um ihr neues Leben voller Elend und makaberer Berühmtheit zu beginnen – draußen wartete bereits die Presse -, fragte sich Detective Littlemore plötzlich, wo Mr. Hugel abgeblieben war. Littlemore hatte angenommen, der Coroner würde persönlich die Obduktion durchführen und die Aussage der Sigels aufnehmen. Aber Hugel war nicht da. An seiner Stelle hatte Dr. O’Hanlon, einer seiner Assistenzärzte, die Autopsie gemacht. Er informierte Littlemore, dass Miss Sigel erwürgt worden und bereits seit drei oder vier Wochen tot war. Außerdem teilte er dem Detective mit, dass Coroner Hugel oben in seinem Büro saß und sein völliges Desinteresse an dem Fall bekundet hatte.
KAPITEL SIEBZEHN
Mit beruhigenden, tröstenden Worten half die erlesen schöne Clara Banwell, die ein grünes, zu ihren Augen passendes Kleid trug, der nicht minder schönen, völlig verzweifelten Nora Acton beim Ausziehen. Clara war kurz nach Littlemores Aufbruch im Haus der Actons eingetroffen und hatte ebenso liebenswürdig wie bestimmt Polizei und Familienangehörige aus Noras Zimmer komplimentiert. Als Nora nackt war, ließ ihr Clara ein kühles Bad ein und setzte sie behutsam in die Wanne. Schluchzend bat Nora sie, ihr zuzuhören. Es waren so viele schreckliche Dinge passiert.
Clara legte Nora zwei Finger auf die Lippen. »Psst. Sei still, mein Liebling. Mach einfach die Augen zu.«
Nora gehorchte. Sanft begann Clara das Mädchen zu baden. Sie wusch ihr die Haare und tupfte die verheilenden Wunden mit einem glatten feuchten Tuch ab.
»Clara.« Nora konnte kaum die Tränen zurückhalten. »Sie glauben mir nicht.«
»Ich weiß, ist schon gut.« Clara mühte sich, das verzagte Mädchen zu beschwichtigen. Sie bat Mrs. Biggs, die ängstlich besorgt im Gang wartete, ihr die Salbe zu bringen, die Dr. Higginson dagelassen hatte. Langsam, um nur ja keine Aufregung aufkommen zu lassen, ließ Clara sich nun von Nora alles beschreiben, was sich seit Montag zugetragen hatte. Clara tröstete sie, wie nur sie es konnte.
»Schon gut.«
»Warum bist du nicht schon früher gekommen?«
»Schsch.« Clara kühlte Noras Stirn. »Jetzt bin ich ja da.«
»Clara?«
»Ja?«
Später, nachdem das Badewasser abgeflossen war, lag Nora in der Wanne, den Körper in ein weißes Handtuch gehüllt, die Augen geschlossen. »Was machst du mit mir, Clara?«
»Ich rasiere dich. Das muss sein, um diese furchtbare Brandwunde zu säubern. Außerdem ist es so auch hübscher.« Clara legte Noras Hand schützend auf die zarteste Stelle des Mädchens. »So, jetzt zieh hier in die andere Richtung, mein Liebling.« Clara schob ihre eigene starke Hand auf die Noras. Sie hielt sie fest und wechselte ab und zu die Lage, um ihre Arbeit machen zu können.
»Nora, George war die ganze Nacht bei mir. Die Polizisten haben mich gefragt, und ich musste es ihnen sagen. Du musst es ihnen jetzt auch sagen. Sonst bringen sie dich weg. Sie sind schon dabei, alles Nötige mit einem Sanatorium zu arrangieren.«
»Na ja, im Sanatorium wäre es vielleicht gar nicht so schlecht.«
»Sei nicht albern. Möchtest du nicht lieber mit mir aufs Land kommen? Ja, das machen wir, mein Liebling. Du und ich, ganz allein, so wie es uns gefällt. Da können wir dann über alles reden.« Clara hörte mit dem Rasieren auf und
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