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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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haben!«, rief Brill. »Der Mann ist doch verrückt.«
    Freud holte tief Luft. »Meine Herren, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Jung gewisse Überzeugungen hegt, was Hellsichtigkeit und das Okkulte betrifft. Ich bin froh, dass Sie meine Skepsis zu diesem Thema teilen, aber Jung ist wohl kaum der Einzige, der hier eine etwas großzügigere Auffassung vertritt.«
    »Eine großzügigere Auffassung«, ereiferte sich Brill, »das kann man wohl sagen. Wenn ich an solche Dinge glauben würde, würden Sie mir Wahnvorstellungen bescheinigen. Auch zum Ödipuskomplex vertritt er übrigens eine recht großzügige Auffassung. Er erkennt die sexuelle Ätiologie nicht mehr an.«
    »Das wünschen Sie sich nur«, konterte Freud ruhig, »damit ich ihn verstoße. Jung erkennt die sexuelle Ätiologie rückhaltlos an. Er wird sogar nächste Woche an der Clark University einen Fall kindlicher Sexualität vorstellen.«
    »Wirklich? Und haben Sie ihn auch gefragt, was er in Fordham erzählen will?«
    Freud antwortete nicht und warf Brill bloß einen scharfen Blick zu.
    »Jelliffe hat mir verraten, dass er und Jung die Sache besprochen haben. Jung hat anscheinend große Angst, die Rolle der Sexualität bei Psychoneurosen überzubetonen. Genau das Wort hat er benutzt: überbetonen .«
    »Selbstverständlich will er sie nicht überbetonen«, schnaubte Freud. »Ich will sie ja auch nicht überbetonen. Jetzt hören Sie beide mir mal gut zu. Ich weiß, dass Sie unter Jungs Antisemitismus gelitten haben. Er verschont mich und lässt es Sie dafür umso stärker spüren. Außerdem bin ich mir sehr wohl über Jungs Probleme mit der Sexualtheorie im Klaren. Aber Sie dürfen nicht vergessen, es war für ihn viel schwerer, mir zu folgen, als für Sie. Auch Younger hier wird größere Schwierigkeiten damit haben. Ein Christ muss in diesem Punkt viel größere innere Widerstände überwinden. Und Jung ist nicht nur Christ, sondern sogar Pastorensohn.«
    Da sich niemand dazu äußerte, wagte ich einen Einwand. »Verzeihung, Dr. Freud, aber warum spielt es eine Rolle, ob man Christ oder Jude ist?«
    »Mein Junge«, erwiderte Freud unwirsch, »Sie erinnern mich an einen dieser Romane von James’ Bruder – wie heißt er noch?«
    »Meinen Sie Henry, Sir?«
    »Ja, Henry.« Zu meiner Überraschung ging Freud nicht weiter auf meine Frage ein. Stattdessen wandte er sich wieder Ferenczi und Brill zu. »Würden Sie es vorziehen, dass die Psychoanalyse eine rein jüdische Volksangelegenheit bleibt? Natürlich ist es unfair von mir, Jung zu fördern, obwohl mir andere schon viel länger die Treue halten. Aber wir Juden müssen bereit sein, ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit auf uns zu nehmen, wenn wir in der Welt vorankommen wollen. Wir haben keine andere Wahl. Wenn ich Jones hieße, dann wären meine Ideen mit Sicherheit auf viel weniger Widerstand gestoßen. Sehen Sie sich Darwin an. Er hat die Schöpfungsgeschichte widerlegt und wird als Held gefeiert. Nur ein Christ kann die Psychoanalyse ins gelobte Land bringen. Wir müssen Jung an unsere Sache binden. Auf ihm ruhen all unsere Hoffnungen.«
    Mehrere Minuten lang herrschte Schweigen. Wir befassten uns mit unserem Frühstück. Brill aß nichts. Er kaute an seinen Fingernägeln. Eigentlich ging ich davon aus, dass das Thema Jung damit erledigt war, aber wieder lag ich falsch.
    »Und was ist mit seinen ständigen Abwesenheiten?«, fragte Brill. »Jelliffe hat mir erzählt, dass Jung das Balmoral am Sonntag nicht später als Mitternacht verlassen hat, doch der Empfangschef schwört, dass Jung erst um zwei ins Hotel zurückgekehrt ist. Was hat er in diesen zwei Stunden nach Mitternacht getrieben? Am nächsten Tag hat Jung nach seiner eigenen Darstellung den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer geschlafen, aber der Mann vom Empfang sagt, er war bis zum Abend weg. Younger, Sie haben doch am Montagnachmittag bei Jung angeklopft. Ich auch, mehrmals und ziemlich fest. Ich glaube nicht, dass er da war. Wo war er die ganze Zeit?«
    Ich unterbrach ihn. »Entschuldigung, haben Sie gesagt, dass Jung Sonntagnacht im Balmoral war?«
    »Ja, richtig. Jelliffe wohnt dort. Sie waren doch gestern selbst dort.«
    »Oh, das war mir nicht klar.«
    »Was war Ihnen nicht klar?«
    »Nichts«, antwortete ich. »Bloß ein Zufall.«
    »Was für ein Zufall?«
    »Die andere Frau – das andere Mordopfer – sie wurde im Balmoral umgebracht.« Ich bewegte mich nervös auf meinem Stuhl. »Sonntagnacht zwischen Mitternacht und zwei

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