Morddeutung: Roman (German Edition)
beruhigte sich Mrs. Biggs ein wenig, und ich erfuhr von ihr alles über die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht, einschließlich der Entdeckung der verräterischen Zigarette. Wenigstens, so fügte die Dienerin erleichtert hinzu, war Mrs. Banwell jetzt oben. Es war deutlich zu erkennen, dass sie Clara Banwell viel eher als den Eltern des Mädchens zutraute, die Angelegenheit auf kompetente Weise in die Hand zu nehmen. Dann ließ mich Mrs. Biggs im Arbeitszimmer allein. Eine Viertelstunde später trat Clara Banwell ein.
Sie war ausgehfertig. Sie trug einen schlichten Hut mit einem durchsichtigen Schleier und hatte einen Sonnenschirm unterm Arm, der, nach dem schimmernden Griff zu urteilen, ziemlich kostspielig gewesen sein musste. Als sie Hut und Schleier abnahm, fiel mir unwillkürlich die Länge und Dichte ihrer Wimpern auf, hinter denen ihre wissenden Augen schimmerten. Sie war keine der »den Konventionen des Salons unterworfenen« Dryaden von Mrs. Wharton. Nein, die Konventionen brachten sie erst richtig zur Geltung. Es war, als würden alle Moden nur dazu dienen, ihren Körper, ihre Elfenbeinhaut, ihre grünen Augen vorzuführen. Ihre Miene konnte ich nicht deuten; sie wirkte zugleich stolz und zerbrechlich.
»Verzeihen Sie mir, Dr. Younger«, sagte sie. »Ich will Sie nicht von Ihrem Besuch bei Nora abhalten. Aber kann ich Sie noch kurz sprechen, bevor ich gehe?«
»Selbstverständlich, Mrs. Banwell.«
»Ich weiß jetzt, was Nora Ihnen erzählt hat. Über mich. Gestern Abend habe ich es noch nicht gewusst.«
»Es tut mir leid«, erwiderte ich. »Das gehört zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen im Arztberuf.«
»Glauben Sie, dass Ihre Patienten immer die Wahrheit sagen?«
Ich schwieg.
»Nun, in diesem Fall ist es tatsächlich die Wahrheit. Nora hat mich mit ihrem Vater gesehen, genau wie sie es beschrieben hat. Aber wenn Sie das jetzt schon wissen, sollen Sie auch den Rest erfahren. Ich habe nicht ohne das Wissen meines Mannes gehandelt.«
»Mrs. Banwell, ich versichere Ihnen …«
»Bitte nicht. Sie meinen vielleicht, dass ich mich rechtfertigen will.« Clara nahm eine Fotografie vom Kaminsims, die Nora mit dreizehn oder vierzehn Jahren zeigte. »Über Rechtfertigungen bin ich längst hinaus. Was ich Ihnen sagen möchte, dient nicht meinem Wohl, sondern Noras. Ich weiß noch, wie die Actons in dieses Haus eingezogen sind. George hat es für sie gebaut. Schon damals war Nora unglaublich attraktiv. Mit vierzehn. Man hatte das Gefühl, die Göttinnen hätten ihre Streitigkeiten ausnahmsweise zurückgestellt und sie als Geschenk für Zeus geschaffen. Ich bin kinderlos, Dr. Younger.«
»Ich verstehe.«
»Tatsächlich? Nun, ich bin kinderlos, weil mir mein Mann nicht gestattet zu gebären. Er sagt, es würde meine Figur ruinieren. Wir hatten noch nie … gewöhnlichen … Geschlechtsverkehr, mein Mann und ich. Kein einziges Mal. Er lässt es nicht zu.«
»Vielleicht ist er impotent.«
»George?« Der Gedanke schien sie zu amüsieren.
»Es ist schwer vorstellbar, dass sich ein Mann unter diesen Umständen zurückhalten würde.«
»Ich nehme an, Sie wollen mir ein Kompliment machen, Dr. Younger. Nun, George hält sich bestimmt nicht zurück. Er lässt sich von mir … auf andere Weise befriedigen. Für normalen Geschlechtsverkehr greift er auf andere Frauen zurück. Mein Mann begehrt viele der jungen Frauen, die er kennenlernt, und er bekommt sie auch. Er wollte auch Nora. Und es ergab sich, dass Noras Vater mich wollte. Darin hat George eine Möglichkeit gesehen, sein Ziel zu erreichen. Er hat mich gezwungen, Harcourt Acton zu verführen. Natürlich war mir auch mit Harcourt nicht erlaubt, was mit meinem eigenen Mann verboten war. So kam es zu der Szene, die Nora beobachtet hat.«
»Ihr Mann wollte Acton dazu bringen, seine eigene Tochter zu prostituieren?«
»Niemand hat von Harcourt verlangt, dass er Nora preisgibt. Mein Mann wollte nur, dass Harcourt das Gefühl hat, für sein Glück so sehr von mir abzuhängen, dass er vor jedem Zerwürfnis zwischen seiner Familie und unserer zurückscheuen würde. Er sollte sich, wenn es darauf ankam, blind und taub stellen.«
Ich verstand. Nachdem Mrs. Banwell ein Verhältnis mit Mr. Acton angefangen hatte, unternahm George Banwell seinen ersten Vorstoß bei Nora. Offensichtlich funktionierte seine Strategie. Als sich Nora bei ihrem Vater beklagte und ihn bat, Banwell wegzuschicken, zog es Mr. Acton vor, ihr keinen Glauben zu schenken und sie
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