Morddeutung: Roman (German Edition)
ins Schlafzimmer trat.
Clara, die mit dem Rücken zur Tür stand, spürte die Gegenwart ihres Mannes hinter sich. Sie wandte sich um, um ihn zu begrüßen, und verbarg Noras Brief hinter dem Rücken. »George, du bist ja noch da.«
Banwell musterte seine Frau von oben bis unten. »Das kannst du bei jemand anders machen.«
»Was?«
»Dieses unschuldige Gesicht. Das hast du damals auf der Bühne auch immer gemacht.«
»Ich dachte, es hat dir gefallen, wie ich auf der Bühne ausgesehen habe.«
»Ja, und es gefällt mir immer noch. Aber ich weiß auch, was es zu bedeuten hat.« George Banwell trat rasch auf seine Frau zu, legte die Arme um sie und riss ihr den Brief aus den Händen.
»Nicht, George. Du ärgerst dich nur.«
Wenn man Post liest, die für einen anderen bestimmt ist, hat man das Gefühl, gleich zwei Menschen auf einmal zu verletzen: den Absender und den Empfänger. Als Banwell sah, dass der Brief von Nora war, wurde dieses Gefühl noch süßer. Allerdings verlor das Gefühl seine Süße wieder, je mehr vom Inhalt des Schreibens Banwell zur Kenntnis nahm.
»Sie weiß nichts«, bemerkte Clara.
Mit versteinerter Miene las Banwell weiter.
»Außerdem würde ihr sowieso niemand glauben, George.«
George Banwell hielt seiner Frau den Brief hin.
»Warum?«, fragte Clara leise, als sie nach ihm griff.
»Warum was?«
»Warum hasst sie dich nur so?«
Es dämmerte bereits, als Littlemore und ich endlich den Streifenwagen erreichten, den der Detective ein Stück südlich von der Manhattan Bridge hatte warten lassen. Wir waren durch den Aufzugschacht nach oben und noch gute drei Meter in die Luft katapultiert worden, bevor wir wieder ins Wasser zurückklatschten. Aber noch waren wir nicht an der Oberfläche. Schlotternd vor Kälte und Erschöpfung mussten wir uns an die Aufzugkabel klammern, bis das Wasser so hoch gestiegen war, dass wir uns auf den Pier ziehen konnten. Dort luden wir den Schrankkoffer in ein Ruderboot – dasselbe Boot, mit dem wir in der Nacht gekommen waren. Zum Glück wartete Littlemores Wagen an einem Dock, das nur zwei Straßen entfernt war; ich glaube nicht, dass wir noch recht viel weiter hätten rudern können. Zwar hatte ich das Gefühl, dass Littlemore mit der Beschaffung des Wagens gegen ein paar Regeln verstoßen hatte, aber das war seine Angelegenheit.
Ich sagte dem Detective, dass wir sofort bei den Actons anrufen mussten; hier war keine Sekunde mehr zu verlieren. Ich hatte eine schreckliche Vorahnung, dass dort in der Nacht etwas geschehen war. Tropfnass rasten wir zum Polizeirevier. Ich wartete im Wagen, während Littlemore hineinhinkte. Wenige Minuten später kam er zurück: Im Haus der Actons war alles ruhig. Nora ging es gut.
Von der Polizeistation aus fuhren wir zu Littlemores Wohnung in der Mulberry Street. Dort zogen wir trockene Sachen an – der Detective borgte mir einen Anzug, der mir nicht besonders gut passte – und tranken jeder ungefähr drei Liter heißen Kaffee. Dann ging es ins Leichenschauhaus. Ich schlug vor, den Deckel des verschlossenen Schrankkoffers mit einer Picke aufzuhacken, doch Littlemore hielt es für besser, ab jetzt streng nach Vorschrift zu verfahren. Er schickte einen Botenjungen nach den Schlossern, und wir warteten. Mit immer noch nassen Haaren trabten wir ungeduldig hin und her. Nein, in Wirklichkeit lief nur ich auf und ab, während Littlemore auf dem Autopsietisch saß und sein Bein schonte. Zu seinen Füßen stand der Schrankkoffer. Wir waren allein. Littlemore hatte gehofft, den Coroner anzutreffen, den ich gestern kennengelernt hatte, doch er war nicht da.
Eigentlich hätte ich nicht bei Littlemore bleiben dürfen. Ich hätte nach Dr. Freud und meinen anderen Gästen im Hotel sehen müssen. Der heutige Freitag war unser letzter ganzer Tag in New York – für morgen Abend war unsere Abreise nach Worcester geplant. Aber ich wollte unbedingt miterleben, wie der Schrankkoffer geöffnet wurde. Wenn sich die tote Miss Riverford darin befand, war das der sichere Beweis, dass Banwell der Mörder war, und Littlemore konnte ihn endlich verhaften.
»Sagen Sie, Doc«, rief Littlemore, »können Sie an der Leiche einer Person feststellen, ob sie erwürgt wurde?« Der Detective winkte mir und führte mich in den Kühlraum des Leichenschauhauses. Er fand die teilweise einbalsamierte Leiche von Miss Elsie Sigel und deckte sie ab. Littlemore hatte mir bereits erzählt, was er über sie wusste.
»Dieses Mädchen wurde nicht erwürgt«,
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