Morddeutung: Roman (German Edition)
Fuß steckt fest.«
Die Außenluke von Fenster sechs war wie eine Bärenfalle auf Youngers Knöchel heruntergesaust. Deswegen strömte weiterhin Wasser aus dem Fenster. Die Außenluke stand einen Spalt offen, und Youngers Fuß ragte in den Fluss hinaus. Mit seinem freien Bein trat er immer wieder mit aller Kraft gegen die Außenplatte, aber die Luke bewegte sich keinen Zentimeter.
»Das haben wir gleich.« Littlemore humpelte zu den Zugketten an der Wand. »Ich mache auf. Dauert nur eine Sekunde.«
»Passen Sie auf. Wir kriegen eine Tonne Wasser.«
»Sobald Sie den Fuß drinnen haben, mach ich wieder zu. Fertig? Also los. Ho-oh.« Littlemore zerrte vergeblich an der Kette. Sie bewegte sich nicht. »Vielleicht kann man die Außenluke nur öffnen, wenn die Innenluke zu ist. Stecken Sie den Kopf wieder rein.«
Nicht sonderlich erfreut folgte Younger der Anweisung. Drinnen klemmte er sich den Atemschlauch in den Mund und wappnete sich für die nächste Überschwemmung. Doch jetzt konnte Littlemore auch die Innenluke nicht mehr schließen. Mit aller Kraft riss er an dem Griff, aber die Platte wollte nicht herunterkommen. Vielleicht, so vermutete Younger, konnte man auch die Innenluke nicht betätigen, solange die Außenluke offen stand.
»Aber sie sind doch beide offen«, wandte Littlemore ein.
»Deswegen funktionieren sie beide nicht.«
»Großartig.« Nun versuchte Littlemore, Youngers Knöchel freizukriegen. Er probierte es mit Reißen, und er probierte es mit Drehen. Doch das führte nur dazu, dass den Arzt mehrmals heftige Schmerzen durchzuckten.
»Littlemore.«
»Was?«
»Warum gehen die Lichter aus?«
Eine ganze Reihe von blauen Gasflammen an der anderen Seite des Raums war von Fackelstärke auf Streichholzflackern heruntergebrannt. Dann erloschen sie ganz. »Da dreht jemand das Gas ab.« Littlemore war wieder aus dem Fenster gekrochen.
Erneut kam von oben ein bösartiges Scheuern von Metall auf Holz. Diesmal endete das Schaben mit einem fernen Scheppern, dem ein neues Geräusch folgte. Littlemore und Younger hoben beide den Blick hinauf zu den schwach beleuchteten Dachsparren. Sie hörten etwas, das wie das Donnern einer sich nähernden Untergrundbahn klang. Und dann sahen sie es: eine Wassersäule mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Zentimetern, die anmutig von der Decke herabfiel. Mit einem mächtigen Klatschen schlug sie auf dem Boden auf und zerstob in alle Richtungen. Der East River strömte in den Senkkasten.
»Meine Fresse«, ächzte Littlemore.
»Großer Gott«, ergänzte Younger.
Der East River ergoss sich nicht nur in ihren Raum. Aus einem halben Dutzend Öffnungen, die über den ganzen Senkkasten verteilt waren, prasselten ähnliche Katarakte herunter. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Die Erklärung war einfach: Die Arbeiten in dem Senkkasten der Manhattan Bridge waren abgeschlossen. Aus diesem Grund hatte Younger auch keine Maschinen und Werkzeuge gesehen. Von Anfang an hatte der Plan festgestanden, den Senkkasten nach seiner Fertigstellung einfach zu fluten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte George Banwell dann ganz plötzlich beschlossen, die Sache zu beschleunigen. Er weckte zwei seiner Ingenieure mit nächtlichen Anordnungen. Diese Ingenieure fuhren zur Baustelle an der Canal Street und setzten Maschinen in Gang, die lange untätig gewesen waren.
Diese Maschinen betrieben eine Art Löschanlage, die in das sechs Meter dicke Dach des Senkkastens eingebaut war. Wegen der Sprengungen, die innerhalb des Senkkastens vorgenommen werden mussten, hatten seine Konstrukteure Sorge gehabt, dass ein Feuer ausbrechen könnte. Und sie behielten recht mit ihren Bedenken, denn tatsächlich geriet der Senkkasten einmal in Brand und konnte nur durch eine teilweise Flutung der inneren Räume gerettet werden. Doch für eine volle Überschwemmung mussten zunächst drei Schichten Kesselblechplatten aufgeschnitten werden. Dies war die Ursache der drei Scharrgeräusche, die Littlemore und Younger gehört hatten.
Das Wasser stand bereits wadenhoch und stieg gleichmäßig. Younger verdoppelte seine Anstrengungen, um seinen Fuß loszureißen, doch vergeblich. »Das ist jetzt wirklich unerfreulich. Sie haben nicht zufällig ein Messer dabei?«
Littlemore fummelte sein Taschenmesser heraus und reichte es ihm hastig. Younger bedachte die Fünfzentimeterklinge mit einem missbilligenden Blick. »Damit geht es nicht.«
»Was geht nicht?«, rief der Detective. Das Tosen der Sturzbäche war so laut, dass
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