Morddeutung: Roman (German Edition)
stellte ich fest.
»Das heißt, dass Chong Sing lügt. Woran erkennen Sie das?«
»Kein Ödem am Hals«, erwiderte ich. »Und schauen Sie, der kleine Knochen hier ist intakt. Normalerweise bricht er, wenn jemand erwürgt wird. Keine Verletzungsspuren an Luft- und Speiseröhre. Sehr unwahrscheinlich. Aber es sieht nach Erstickungstod aus.«
»Was ist da der Unterschied?«
»Sie ist an Sauerstoffmangel gestorben. Nicht durch Strangulierung.«
Littlemore verzog das Gesicht. »Sie meinen, jemand hat sie in den Schrankkoffer gesperrt, als sie noch gelebt hat, und dann ist sie erstickt?«
»Sieht so aus. Aber eins ist merkwürdig. Werfen Sie mal einen Blick auf die Fingernägel.«
»Die sehen doch ganz normal aus, Doc.«
»Das ist ja das Merkwürdige. Sie sind ganz glatt an den Spitzen, völlig unbeschädigt.«
Littlemore verstand sofort. »Sie hat nicht gekratzt. Sie hat nicht versucht rauszukommen.«
Wir starrten uns an.
»Chloroform«, bemerkte der Detective.
In diesem Moment klopfte es an der äußeren Labortür. Die Schlosser, Samuel und Isaac Friedlander, waren eingetroffen. Mit einem Gerät, das einer überdimensionalen Gartenschere ähnelte, durchtrennten sie die beiden Vorhängeschlösser an den Spangen des Schrankkoffers. Littlemore ließ die beiden Handwerker eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, die ihr Vorgehen belegte, und bat sie zu warten, damit sie als Zeugen fungieren konnten. Nach einem tiefen Atemzug öffnete er den Deckel.
Es gab keinen Geruch. Ein wirres, dicht gepacktes Sammelsurium von wassergetränkten Kleidern, aus denen vereinzelte Schmuckstücke lugten, war alles, was ich zunächst erkannte. Dann deutete Littlemore auf einen Wust verfilzter Haare. »Da ist sie«, meinte er. »Das wird jetzt nicht angenehm.«
Der Detective schlüpfte in ein Paar Handschuhe, packte die Haare und zog. Plötzlich löste sich seine Faust mit einer Handvoll triefender, verklebter Haare.
»Er hat sie zerstückelt«, ließ sich einer der Friedlanders vernehmen.
»Mannomann.« Littlemore biss die Zähne zusammen und warf das Haarbüschel auf den Tisch. Dann riss er es wieder hoch. »Moment mal, das ist doch eine Perücke.«
Der Detective machte sich daran, den Inhalt des Schrankkoffers auszuräumen. Nacheinander zog er die Sachen heraus, verzeichnete sie in einem Inventar und verstaute sie in Tüten oder anderen Behältnissen. Neben der Perücke gab es mehrere Paar hochhackige Schuhe, eine reiche Kollektion an Dessous, ein halbes Dutzend Kleider, Schmuck und Toilettenartikel, eine Nerzstola, einen leichten Damenmantel – aber keine Dame.
»Was zum Geier …?« Littlemore kratzte sich am Kopf. »Wo ist das Mädel? Es muss noch einen anderen Schrankkoffer geben. Doc, irgendwie haben Sie den falschen Koffer erwischt.«
Ich ließ den Detective wissen, was ich von seiner Hypothese hielt.
Littlemore begleitete mich hinaus in den grellen Sonnenschein. Ich erkundigte mich nach seinem weiteren Vorgehen. Er hatte vor, den Schrankkoffer und den gesamten Inhalt nach möglichen Verbindungen zu Banwell oder der Ermordeten zu durchkämmen. Vielleicht konnte die Familie Riverford in Chicago einige Sachen des Mädchens identifizieren. »Wenn nur eins dieser Halsbänder Elizabeth Riverford gehört hat, dann hab ich ihn am Wickel«, sagte der Detective. »Ich meine, wer außer Banwell kann ihre Sachen einen Tag nach dem Mord in einem Schrankkoffer unter der Manhattan Bridge verstaut haben? Und warum sollte er so was machen, wenn er nicht der Mörder ist?«
»Warum sollte er so was machen, wenn er der Mörder ist ?«, war meine Gegenfrage.
»Warum sollte er es machen, wenn er es nicht ist?«
»Eine äußerst ergiebige Unterhaltung, die wir hier führen«, bemerkte ich.
»Okay, ich weiß nicht, warum.« Der Detective zündete sich eine Zigarette an. »Eigentlich gibt es ziemlich viel in diesem Fall, was ich nicht kapiere. Eine Zeit lang dachte ich, Harry Thaw ist der Mörder.«
» Der Harry Thaw?«
»Ja. Ich war schon ganz heiß auf den größten Fang, den je ein Detective gemacht hat. Dann stellt sich raus, dass sie Thaw in irgendeinem Kaff in ein Irrenhaus gesperrt haben.«
»Eingesperrt würde ich das nicht unbedingt nennen.« Ich erzählte ihm, dass Thaws Haftbedingungen bestenfalls lax zu nennen waren. Littlemore erkundigte sich, von wem ich diese Information hatte. Von Jelliffe, antwortete ich, einem von Thaws psychiatrischen Beratern. Nach allem, was ich wusste, bezahlte die Familie Thaw
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