Morddeutung: Roman (German Edition)
sogar die gesamte Belegschaft der Anstalt.
Der Detective starrte mich an. »Dieser Name, Jelliffe – den kenne ich irgendwoher. Der wohnt nicht zufällig im Balmoral, oder?«
»Doch, er wohnt dort. Ich war vor zwei Tagen bei ihm zum Dinner eingeladen.«
»Der Schweinehund«, entfuhr es Littlemore.
»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich so einen Ausdruck von Ihnen höre, Detective.«
»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich so einen Ausdruck benutzt habe. Bis später, Doc.« So schnell wie möglich humpelte er zurück ins Gebäude. Kurz bevor er verschwand, blickte er über die Schulter und winkte mir noch einmal zu.
Erst jetzt fiel mir ein, dass ich kein Geld bei mir hatte. Meine Brieftasche steckte in einer Hose, die vor Littlemores Küchenfenster an einer Wäscheleine hing. Zum Glück fand ich in der Anzugtasche des Detectives ein Fünfcentstück. Gerade noch rechtzeitig wachte ich auf, als die Untergrundbahn in die Grand Central Station einfuhr. Wer weiß, wo ich sonst gelandet wäre.
Vor einem einstöckigen Haus an der Fortieth Street, nicht weit vom Broadway, knallte Detective Littlemore wütend mit dem protzigen Türklopfer. Kurz darauf wurde die Tür von einer jungen Frau geöffnet, die der Detective noch nie gesehen hatte. »Wo ist Susie?«
Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, erklärte das Mädchen nur, dass Mrs. Merrill weggegangen war. Da er weiter hinten Frauenstimmen hörte, steuerte Littlemore den Salon an. In dem reich mit Spiegeln bestückten Zimmer befanden sich sechs Damen, deren bevorzugte Kleidungsfarben – sofern sie überhaupt noch etwas anhatten – schwarz und rot zu sein schienen. Mitten drin saß diejenige, nach der Littlemore gesucht hatte: »Hallo, Greta.«
Sie blinzelte ihn erstaunt an, ohne ihm eine Antwort zu geben. Sie sah deutlich weniger verträumt aus als noch vor einigen Tagen.
»Er war letztes Wochenende hier, stimmt’s?«, fragte der Detective.
Greta blieb stumm.
»Sie wissen, von wem ich rede. Harry.«
»Wir kennen viele Harrys«, entgegnete ein Mädchen.
»Harry Thaw.«
Greta schniefte. Erst jetzt fiel Littlemore auf, dass sie offenbar geweint hatte. Sie wollte sich zusammenreißen, aber es gelang ihr nicht. Das Gesicht in einem Taschentuch vergraben, fiel sie in sich zusammen. Sofort drängten sich die anderen Mädchen um sie und bekundeten ihr Mitgefühl.
»Sie sind diejenige, nicht wahr, Greta? Sie sind die, die er auspeitscht. Hat er es letzten Sonntag auch gemacht?« Littlemore wandte sich an alle Frauen: »Hat ihr Thaw wehgetan? Weint sie deswegen?«
»Ach, lassen Sie sie doch in Ruhe«, schimpfte das Mädchen mit der Zigarette im Mund.
Außer ihrem Taschentuch umklammerte Greta auch ein rosa Stoffstück, von dem kleine rosa Schlaufen hingen. Es war ein Lätzchen. Der Detective bemerkte auf einmal, dass heute nichts von dem durchdringenden Geschrei des Babys zu hören war, das er bei seinem letzten Besuch vernommen hatte. »Was ist mit dem Baby passiert?«
Greta erstarrte.
Jetzt war sich Littlemore seiner Sache sicher. »Was ist mit Ihrem Baby passiert, Greta?«
»Warum hab ich sie nicht behalten dürfen?«, brach es aus Greta hervor, ohne dass die Frage an jemand Bestimmtes gerichtet war. Dann fing sie wieder an zu schluchzen. Die anderen taten ihr Bestes, um sie aufzumuntern, aber sie war untröstlich. »Sie hat doch niemandem was getan.«
»Jemand hat ihr das Baby weggenommen?«, fragte Littlemore.
Wieder vergrub Greta das Gesicht in den Händen. Eine der anderen Frauen antwortete für sie. »Susie hat es ihr weggenommen. Richtig gemein, so was. Sie hat eine Familie in Hell’s Kitchen gefunden, die die Kleine nimmt. Sie will Greta nicht mal sagen, was das für Leute sind.«
»Und dann kürzt sie Greta auch noch den Lohn«, fügte eine andere hinzu. »Drei Dollar am Tag. Das ist doch ungerecht.«
»Ich wette, Susie zahlt denen nur einen Dollar fünfzig«, warf die Raucherin ein.
»Das Geld ist mir ganz egal«, schluchzte Greta. »Ich will nur meine Fannie. Ich will sie wiederhaben.«
»Vielleicht kann ich sie Ihnen zurückholen«, antwortete Littlemore.
»Können Sie das?« Hoffnung lag in Gretas Stimme.
»Ich kann es versuchen.«
»Ich tu alles, was Sie wollen«, flehte Greta. »Alles.«
Littlemore überlegte kurz, ob er wirklich aus einer Frau, der man gerade ihr Kind weggenommen hatte, Informationen herauspressen sollte. »Kostet nichts.« Er setzte seinen Hut auf. »Bestellen Sie Susie, ich komme
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