Morddeutung: Roman (German Edition)
wieder.«
Als er schon kurz vor der Eingangstür war, hörte er von hinten Gretas Stimme. »Er war hier. Ungefähr um ein Uhr morgens ist er gekommen.«
»Thaw? Am letzten Sonntag?«
Greta nickte. »Sie können alle Mädels hier fragen. Ganz aufgeregt war er. Hat nach mir gefragt. Ich war immer sein Liebling. Ich habe Susie gesagt, dass ich nicht will, aber das war ihr egal. Sie ist auf ihn los von wegen des ganzen Geldes, was er ihr schuldet, weil wir dichthalten, aber er hat nur laut gelacht und …«
»Geld fürs Dichthalten?«
»Ja, das Geld, das er ihr versprochen hat, damit wir anderen nicht bei dem Prozess aussagen und erzählen, was er mit uns angestellt hat. Susie hat einen Haufen eingeschoben. Sie hat ihm erzählt, es ist für uns, aber sie hat alles selbst behalten. Keinen Penny haben wir davon gesehen. Und als sie ihn erst mal weggesperrt hatten, hat seine Mutter nichts mehr bezahlt. Darum war Susie so sauer. Sie hat ihm gesagt, dass er das Doppelte rausrücken muss und alles im Voraus, wenn er mich haben will. Und er musste ihr versprechen, dass er nett zu mir ist. Aber er war nicht nett.« Wieder trat der abwesende Blick in Gretas Augen, als würde sie Dinge beschreiben, die einer anderen passiert waren. »Nachdem er mich ausgezogen hat, reißt er das Laken vom Bett und sagt, dass er mich fesseln will, so wie früher. Ich habe ihm gesagt, er soll verschwinden, sonst … Und er: ›Was sonst?‹ Und dann hat er gelacht wie ein Irrer. ›Weißt du nicht, dass ich geisteskrank bin? Ich kann alles machen, was ich will. Was wollen die denn tun? Mich einsperren vielleicht?‹ Dann ist Susie reingekommen. Hat wahrscheinlich die ganze Zeit an der Tür gelauscht.«
»Von wegen!«, meldete sich eine der anderen, die sich inzwischen alle im Gang versammelt hatten. » Ich hab gelauscht und Susie geholt. Und Susie ist dann gleich reinmarschiert. Vor ihr hatte er schon immer eine Scheißangst. Natürlich hätte sie gar nix gemacht, wenn Thaw schon im Voraus bezahlt hätte, wie sie es verlangt hat. Das hätten Sie sehen sollen, wie der da rausgerannt ist, das kleine Aas.«
»Er ist bei mir ins Zimmer«, ergänzte ein anderes Mädchen. »Hat gejammert und mit den Armen rumgefuchtelt wie ein kleiner Junge. Dann ist Susie gekommen und hat ihn rausgejagt.«
Die Frau mit der Zigarette konnte mit dem Ende der Geschichte aufwarten. »Durchs ganze Haus hat sie ihn gescheucht. Und wissen Sie, wo sie ihn erwischt hat? Hinter dem Kühlschrank. Der hat sich die Fingernägel abgekaut. Susie hat ihn am Ohr durch den ganzen Gang geschleift und ihn dann hochkant rausgeschmissen wie einen Müllsack. Deswegen ist sie ja auch im Knast gelandet. Becker ist zwei Tage später aufgekreuzt.«
»Becker?«
»Ja, Becker«, kam die Antwort. »Hier passiert nichts, wo Becker nicht seine Finger drin hat.«
»Werden Sie bezeugen, dass Thaw letzten Sonntag hier war?«, fragte Littlemore.
Die Frauen blieben stumm. Schließlich sagte Greta: »Ja, ich sage aus – wenn Sie meine Fannie finden.«
Wieder wollte Littlemore schon aufbrechen, als die Frau mit der Zigarette fragte: »Soll ich Ihnen verraten, wo er danach hin ist?«
»Woher wollen Sie denn das wissen?«
»Sein Freund hat dem Fahrer die Adresse genannt. Ich hab’s von oben durchs Fenster gehört.«
»Was für ein Freund?«
»Der, mit dem er gekommen ist.«
»Ich dachte, er war allein.«
»Mm-mm«, machte sie. »So ein Dicker. Hat sich für was ganz Besonderes gehalten. Aber er war nicht knauserig, das muss man ihm lassen. Dr. Smith – so hat er sich genannt.«
»Dr. Smith.« Der Detective hatte das Gefühl, den Namen erst kürzlich gehört zu haben. »Und wo sind sie hingefahren?«
»Zum Gramercy Park. Hab es laut und deutlich gehört.«
»Der Schweinehund«, entfuhr es Littlemore.
Es war schon nach zehn, als ich im Hotel ankam. Als er mir meinen Schlüssel reichte, blickte der Empfangschef naserümpfend auf Littlemores fadenscheiniges Jackett, das eine sichtbare Lücke zwischen den Ärmelenden und meinen Händen ließ. Ein Brief war für mich abgegeben worden, erfuhr ich, den Dr. Brill an meiner Stelle in Empfang genommen hatte. Der Empfangschef deutete in eine Ecke der Eingangshalle, wo Brill zusammen mit Rose und Ferenczi saß.
»Meine Güte, Younger«, entfuhr es Brill, als ich ihn begrüßt hatte. »Sie sehen ja schrecklich aus. Was haben Sie denn die ganze Nacht getrieben?«
»Eigentlich habe ich nur versucht, mich irgendwie über Wasser zu
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