Morddeutung: Roman (German Edition)
vereinbarte Honorar in voller Höhe erhalten. Hall wollte verlauten lassen, dass Freud aus gesundheitlichen Gründen verhindert sei. Außerdem hatte er als Hauptredner bereits jemanden gefunden, den sicherlich auch Freud für einen würdigen Vertreter hielt: C. G. Jung.
Vor allem der letzte Punkt trieb Brill die Zornesröte ins Gesicht. »Wenn wir bloß wüssten, wer hinter dem Ganzen steckt.« Es war förmlich zu hören, wie er mit den Zähnen knirschte.
Es klopfte an der Tür. Littlemore steckte den Kopf durch den Spalt. Nachdem ich alle miteinander bekannt gemacht hatte, drängte ich Brill, dem Detective unsere heikle Lage zu beschreiben. Er tat es in großer Ausführlichkeit. Das Schlimmste war, so schloss Brill, dass wir nicht wussten, mit wem wir es zu tun hatten. Wer konnte so darauf aus sein, Freuds Buch zu unterdrücken und seine Vorlesungen in Worcester zu verhindern?
»Wenn Sie mich fragen«, meinte Littlemore, »dann sollten wir mal ein bisschen mit Ihrem Freund Dr. Smith Jelliffe plaudern.«
»Jelliffe?« Brill winkte ab. »Das ist doch lächerlich. Er ist mein Verleger. Für ihn wäre es doch ein großer Vorteil, wenn Freuds Vorlesungen gut laufen. Er drängt mich schon seit Monaten, die Übersetzung schneller abzuschließen.«
»Falscher Ansatz«, erwiderte Littlemore. »Es bringt nichts, wenn man alles auf einmal rausfinden will. Also, mal ganz langsam. Dieser Jelliffe kriegt Ihr Buchmanuskript, und als er es Ihnen zurückgibt, ist es voll mit diesem komischen Zeug. Und er sagt, dass das von so einem Geistlichen stammt, der sich seine Druckerpresse ausgeliehen hatte. Da ist doch was faul. Den sollten wir uns unbedingt vorknöpfen.«
Sie wollten mich davon abhalten, aber ich zog mich an, um mitzukommen. Wenn ich nicht so ein verdammter Narr wäre, hätte ich beim Schuheschnüren um Hilfe gebeten; so aber riss ich mir fast die Wundnähte auf. Bevor wir zu Jelliffe fuhren, schauten wir noch schnell bei Brill vorbei. Littlemore wollte unbedingt ein bestimmtes Beweisstück mitnehmen.
Der Detective winkte einem Officer in der Eingangshalle des Balmoral zu. Die Polizei hatte den ganzen Vormittag die inzwischen leere Wohnung der Banwells durchkämmt. Der bei den Uniformierten ohnehin schon sehr beliebte Littlemore war über Nacht zu einer anerkannten Persönlichkeit geworden. Die Nachricht, dass er sowohl Banwell als auch Hugel überführt hatte, hatte sich wie ein Lauffeuer in der Truppe verbreitet.
Noch im Schlafanzug und mit einem feuchten Handtuch auf dem Kopf öffnete Smith Ely Jelliffe die Tür. Der Anblick der Doktoren Younger, Brill und Ferenczi machte ihn stutzig, doch seine Überraschung schlug in Alarmiertheit um, als er sah, dass seine Nemesis, der Detective vom Vorabend, den anderen humpelnd folgte.
»Ich habe nichts davon gewusst«, platzte Jelliffe heraus. »Ich habe erst davon erfahren, nachdem Sie gegangen waren. Er war nur ein paar Stunden in der Stadt. Und es hat nicht das geringste Vorkommnis gegeben, das schwöre ich. Er ist auch schon wieder in der Anstalt. Sie können selbst anrufen. Es wird nie wieder passieren.«
Brill staunte. »Sie beide kennen sich?«
Zur allgemeinen Verwunderung der anderen fragte Littlemore Jelliffe einige Minuten nach Harry Thaw aus. Als der Detective genug erfahren hatte, erkundigte er sich bei Jelliffe, warum er Brill anonyme Drohungen geschickt, sein Manuskript verbrannt, seine Wohnung mit Asche überstäubt und Dr. Freud in der Zeitung verleumdet hatte.
Jelliffe beteuerte seine Unschuld. Er hatte keine Ahnung von verbrannten Büchern und Drohbriefen.
»Tatsächlich?«, hakte Littlemore nach. »Und wer hat dann diese Seiten mit den Bibelsprüchen in das Manuskript geschmuggelt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jelliffe. »Das müssen diese Kirchenleute gewesen sein.«
»Klar.« Littlemore zeigte Jelliffe das Beweisstück, das wir unterwegs abgeholt hatten: die eine Seite aus Brills Manuskript, auf der sich nicht nur der Vers des Propheten Jeremia befand, sondern auch das aufgestempelte Bild eines bärtigen, finster dreinblickenden Mannes mit Turban. »Und wie ist das hier reingekommen? Schaut nicht sehr kirchlich aus für mich.«
Jelliffes Kinnlade klappte nach unten.
»Was ist das?«, mischte sich Brill ein. »Kennen Sie es?«
»Das Charaka-Zeichen«, erwiderte Jelliffe.
»Was?«, fragte Littlemore.
»Charaka ist alter Hinduarzt«, erklärte Ferenczi. »Ich habe gesagt, ist Hindu. Sie erinnern sich?«
Younger meldete sich. »Das
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