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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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sie irgendwo zwischen unseren Körpern den Revolver im Griff, den Finger am Abzug.
    »Sie wissen nicht, auf wen die Waffe gerichtet ist, nicht wahr?« Ich presste sie noch fester gegen die Wand, sodass ihr ein Ächzen entfuhr. »Wollen Sie es wissen? Sie ist auf Sie gerichtet. Auf Ihr Herz.«
    Ich spürte, dass mir das Blut am Hemd hinunterströmte. Clara sagte nichts, verunsichert hielt sie meinem Blick stand.
    Ich sammelte meine Kräfte, um fortzufahren. »Sie haben recht, das könnte ein Bluff von mir sein. Warum drücken Sie nicht einfach ab, um es rauszufinden? Das ist Ihre einzige Chance. Gleich habe ich Sie überwältigt. Na los. Drücken Sie schon ab. Drücken Sie ab, Clara.«
    Sie drückte ab. Ein gedämpfter Knall war zu hören. Sie riss die Augen auf. »Nein.« Ihr Körper wurde starr. Unverwandt starrte sie mich an. »Nein.« Dann flüsterte sie: »Der Rest ist Schweigen.«
    Ihre Augen schlossen sich nicht. Ihr Körper wurde einfach schlaff, und sie fiel tot zu Boden.
    Mit dem Revolver in der Hand trat ich wieder ins Zimmer. Ich wollte zu Nora hinübergehen, aber ich schaffte es nicht. Stattdessen taumelte ich zum Sofa. Die Hand auf den Bauch gedrückt, ließ ich mich vorsichtig darauf niedersinken. Das Blut sickerte mir durch die Finger, auf meinem Hemd hatte sich bereits ein großer roter Fleck ausgebreitet. Nora lief herbei.
    »Hohe Absätze«, sagte ich. »Die stehen Ihnen wirklich gut.«
    »Sie dürfen nicht sterben«, wisperte sie.
    Ich blieb stumm.
    »Bitte, Sie dürfen nicht sterben«, flehte sie. »Werden Sie sterben?«
    »Ich fürchte, ja, Miss Acton.« Ich wandte den Blick zu Claras Leiche und von dort zum Balkongeländer, hinter dem ich in der fernen Nacht einige Sterne erkennen konnte. Seit der Beleuchtung des Broadway war das Funkeln der Sterne über der Stadtmitte unwiederbringlich verloren. Schließlich schaute ich wieder in Noras blaue Augen. »Ich will es sehen.«
    »Was wollen Sie sehen?«
    »Ich will nicht sterben, ohne es zu wissen.«
    Nora hatte verstanden. Sie drehte mir den Rücken zu, so wie sie es am Tag unserer ersten Analysesitzung hier im selben Zimmer getan hatte. Nach hinten gegen das Sofa gelehnt, streckte ich eine Hand aus – die saubere Hand, nicht die blutverschmierte, die ich gegen den Bauch drückte -, um ihr Kleid aufzuknöpfen. Als es offen stand, löste ich die Schnürung ihres Mieders und zog die Ösen auseinander. Hinter dem Geflecht aus Bändern, unter und zwischen ihren anmutigen Schulterblättern, kamen mehrere noch nicht verheilte Platzwunden zum Vorschein. Ich berührte eine. Nora stieß einen erstickten Schrei aus.
    »Gut.« Ich erhob mich vom Sofa. »Das wäre also geklärt. Jetzt sollten wir aber allmählich die Polizei und den Rettungsdienst rufen, damit sich jemand um mich kümmert, meinen Sie nicht auch?«
    »Aber …« Verstört blickte Nora zu mir auf. »Sie haben doch gesagt, Sie werden sterben.«
    »Das werde ich auch bestimmt«, erwiderte ich. »Eines Tages. Aber nicht von diesem Flohstich.«

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
     
    Kaum war ich am späten Samstagmorgen aufgewacht, da führte eine Krankenschwester auch schon zwei Besucher herein: Abraham Brill und Sándor Ferenczi.
    Beide trugen ein mattes Lächeln zur Schau. Mit gespielter Munterkeit fragten sie, wie es »unserem Helden« ging, und ließen nicht von mir ab, bis ich ihnen die ganze Geschichte erzählt hatte. Doch irgendwann gelang es ihnen nicht mehr, ihren Trübsinn zu verbergen. Ich wollte wissen, was mit ihnen los war.
    »Es ist vorbei«, antwortete Brill. »Noch ein Brief von Hall.«
    »Nämlich für Sie«, fügte Ferenczi hinzu.
    »Den Brill natürlich gelesen hat«, folgerte ich.
    »Um Himmels willen, Younger«, rief Brill. »Sie hätten doch genauso gut sterben können.«
    »Und das gibt Ihnen natürlich das Recht, meine Korrespondenz zu sichten.«
    Wie sich herausstellte, enthielt Halls Brief sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Die Schenkung an die Clark University hatte er abgelehnt. Er konnte keine Spenden akzeptieren, so erklärte er, die mit der Bedingung verknüpft waren, dass die Universität ihre Lehrfreiheit aufgab. Aber auch was Freuds Vorlesungen anging, war er jetzt zu einem Entschluss gelangt. Wenn er nicht heute bis spätestens vier Uhr definitiv von uns erfuhr, dass der ihm vorliegende Artikel nicht in der New York Times erscheinen würde, war er gezwungen, die Vorlesungen abzusagen. Er entschuldigte sich wortreich. Selbstverständlich würde Freud das

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