Morddeutung: Roman (German Edition)
Entscheidungen getroffen hätte.«
»Na schön«, bemerkte Littlemore. »Ich könnte Sie jetzt wegen Beihilfe zur Flucht eines Gefangenen festnehmen, aber für eine Verurteilung würde es wahrscheinlich nicht reichen.«
»Das würde mich auch sehr wundern«, antwortete Dana. »Aber ich könnte wahrscheinlich für Ihre Entlassung sorgen, wenn Sie es probieren.«
Littlemore blieb unbeeindruckt. »Dann haben Sie vermutlich auch keine Entscheidung getroffen, die dazu geführt hat, dass ein Manuskript gestohlen und verbrannt und die Asche in der Wohnung von Dr. Abraham Brill verstreut wurde?«
Zum ersten Mal schien Dana leicht aus der Fassung zu geraten.
»Schönen Ring haben Sie da, Dr. Dana«, setzte Littlemore hinzu.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass Dana an der rechten Hand einen Siegelring trug. Niemand sprach. Dana verschränkte seine langen Finger ineinander – ohne jedoch den Ring zu verbergen – und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Was wollen Sie von mir, Mr. Littlemore?« Dann wandte er sich an mich. »Oder vielleicht sollte ich diese Frage besser Ihnen stellen, Dr. Younger.«
Ich räusperte mich. »Dieses Lügengewebe. Die Beschuldigungen gegen Dr. Freud, die Sie in Umlauf gebracht haben. Nichts davon ist wahr.«
»Angenommen, ich weiß, wovon Sie reden«, antwortete Dana. »Dann darf ich meine Frage erneut stellen: Was wollen Sie?«
»Es ist jetzt halb vier. In einer halben Stunde werde ich G. Stanley Hall in Worcester ein Telegramm schicken und ihn darüber informieren, dass zwei bestimmte Artikel nicht in der morgigen Ausgabe der New York Times erscheinen. Ich will, dass diese Mitteilung der Wahrheit entspricht.«
Schweigend hielt Dana meinem Blick stand. Schließlich sprach er. »Vielleicht darf ich mir eine Bemerkung erlauben. Das Problem ist, dass unser Wissen über das menschliche Gehirn unvollkommen ist. Wir haben keine Medikamente, um die Art des Denkens zu ändern. Um die Menschen von ihren Wahnvorstellungen zu heilen. Um ihren sexuellen Trieben Erleichterung zu verschaffen, ohne dass es auf der Welt zu einer Bevölkerungsexplosion kommt. Um sie glücklich zu machen. Es ist alles eine Frage der Neurologie, verstehen Sie. Es muss so sein. Die Psychoanalyse wird uns um hundert Jahre zurückwerfen. Ihre Freizügigkeit wird bei der dumpfen Masse auf Anklang stoßen. Ihre Hemmungslosigkeit wird junge und selbst einige ältere Wissenschaftler ansprechen. Sie wird die Massen zu Exhibitionisten und die Ärzte zu Mystikern machen. Doch eines Tages wird die Menschheit zur Besinnung kommen und erkennen, dass das alles nur ein alter Hut ist. Früher oder später werden wir Arzneien erfinden, um das Denken der Menschen zu verändern. Um ihre Empfindungen zu steuern. Die Frage ist nur, ob wir dann noch so viel Schamgefühl besitzen, dass es uns verlegen macht, wenn alle Welt nackt herumläuft. Schicken Sie Ihr Telegramm, Dr. Younger. Es wird der Wahrheit entsprechen – zumindest fürs Erste.«
Nachdem wir Danas Haus verlassen hatten, fuhr mich Littlemore durch die Stadt. »Also, Doc. Ich weiß, wie Sie zu Nora stehen und alles, aber sind Sie nicht … ich meine, warum hat sie das gemacht?«
»Für Clara«, antwortete ich.
»Aber warum?«
Ich blieb stumm.
Littlemore schüttelte den Kopf. »Alle haben es für Clara gemacht.«
»Sie hat Banwell Mädchen beschafft.«
»Ich weiß«, entgegnete Littlemore.
»Das wissen Sie?«
»Gestern Abend hat Nora Betty und mir von der Missionsarbeit erzählt, die sie und Clara bei den Einwandererfamilien in der Innenstadt gemacht haben. Das ist mir gleich nicht ganz sauber vorgekommen, wenn Sie verstehen, was ich meine, nach allem, was ich schon gehört hatte. Also habe ich mir von Nora ein paar Namen und Adressen geben lassen und sie heute Vormittag abgeklappert. Ein paar von den Familien, denen Clara ›geholfen‹ hat, habe ich noch angetroffen. Die meisten wollten nicht reden, aber schließlich hab ich es doch noch aus ihnen rausgekriegt. Ich kann Ihnen sagen, das waren wirklich hässliche Geschichten. Clara hat Mädchen ohne Väter gesucht, manchmal auch ganz ohne Eltern. Blutjunge Dinger – dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Sie hat die Leute bezahlt, in deren Obhut sie waren, und sie dann zu Banwell gebracht.«
Schweigend fuhr Littlemore weiter.
»Haben Sie herausgefunden, woher dieser Geheimgang in Noras Schlafzimmer stammt?«
»Ja. Banwell hat heute Vormittag auch ausgepackt«, antwortete der Detective. »Er gibt Clara die Schuld an allem.
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