Morddeutung: Roman (German Edition)
Bis gestern hatte er keine Ahnung, dass sie was gegen ihn im Schilde führt. Vor drei oder vier Jahren haben sich die Actons ihr Haus am Gramercy Park von ihm umbauen lassen. Damals haben sie sich kennengelernt.«
»Und seitdem war Banwell von Nora besessen.«
»Sieht so aus. Sie war damals – wie alt? – vierzehn, aber er wollte sie unbedingt haben. Also, hören Sie zu. Seine Leute arbeiten an dem Haus und finden dabei einen alten unterirdischen Gang, der von einem Zimmer im ersten Stock nach hinten zum Gartenschuppen führt. Anscheinend wussten die Actons nichts davon. Sie waren gerade auf dem Land, und Banwell hat ihnen nichts verraten. Er lässt den Gang verlängern, sodass er von der Seitengasse hinter dem Haus aus reinschlüpfen kann, ohne dass er das Grundstück betritt. Und er gestaltet das Haus so, dass das Zimmer im ersten Stock Noras neues Zimmer wird. Ich habe ihn gefragt, ob er vorhatte, einfach eines Nachts in Noras Zimmer zu gehen und sie zu vergewaltigen. Und wissen Sie was? Er hat mir ins Gesicht gelacht. Er behauptet, dass er noch nie ein Mädchen vergewaltigt hat. Sie wollen es alle, sagt er. Bei Nora hat er sich überlegt, dass er sie richtig verführen muss und dass er deswegen einen Zugang zu ihrem Zimmer braucht, von dem ihre Eltern nichts mitkriegen. Aber Nora hat anscheinend nicht viel von Verführung gehalten.«
»Sie hat ihn zurückgewiesen.«
»Das hat er uns auch erzählt. Er hat geschworen, dass er sie nie angerührt hat. Den Geheimgang hat er diese Woche zum ersten Mal benutzt. Ich glaube, das Ganze hat ihm ziemlich zu schaffen gemacht. Vielleicht hat ihm vorher noch nie eine einen Korb gegeben.«
»Kann schon sein«, bemerkte ich. »Vielleicht hat er sie geliebt.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Und Clara hat beschlossen, ihm Nora auf dem Tablett zu präsentieren.«
»Wie hat sie das angefangen?«, fragte Littlemore.
»Ich glaube, sie hat dafür gesorgt, dass sich Nora in sie verliebt.«
»Was?«
Ich ging nicht auf seine Frage ein.
»Dazu kann ich jetzt gar nichts sagen«, begann Littlemore nach kurzem Zögern. »Aber was Banwell erzählt hat, passt dazu. Er sagt, es war Claras Idee, dass Nora Elizabeth Riverford gespielt hat. Beim Bau des Balmoral hat er ebenfalls einen Geheimgang anlegen lassen, nur diesmal gleich mit Verbindung zu seinem Arbeitszimmer. Die Wohnung, zu der er führt, soll sein kleines Liebesnest sein. Er richtet alles genau nach seinen Vorstellungen ein: großes Messingbett, Seidenlaken, alles nur vom Feinsten. Den Wandschrank füllt er mit Dessous und Pelzsachen. Auch ein paar von seinen Anzügen hängt er rein, aber in einen eigenen Schrank, der immer abgeschlossen bleibt. Wenn man Banwell glauben kann, hat Nora vor Kurzem endlich Ja gesagt. Sie haben ausgemacht, dass Nora unter falschem Namen in die Wohnung einzieht und dass sie so oft wie möglich kommt, um ihn zu treffen. Ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist. Ich wollte Nora nicht danach fragen.«
Ich kannte die Wahrheit. Gestern Nacht, als wir auf die Polizei warteten, hatte mir Nora die ganze Geschichte erzählt.
Eines Tages im Juli hatte Clara Nora unter Tränen mitgeteilt, dass sie ihre Ehe nicht länger ertragen konnte. Fast jede Nacht wurde sie von George verprügelt und vergewaltigt. Sie fürchtete um ihr Leben, konnte ihn aber nicht verlassen, weil er sie sonst sofort umbringen würde.
Nora war entsetzt, aber Clara hatte sich damit abgefunden, dass sie nichts dagegen tun konnte. Es gab höchstens einen rettenden Ausweg, aber der war völlig unmöglich. Clara kannte einen hochrangigen Polizeibeamten. Das war natürlich Hugel. Clara hatte ihn kennengelernt, als sie und Nora einer Einwandererfamilie »halfen«, deren Tochter verstorben war. Nach Claras Worten hatte sie ihm ihr Leid geklagt. Hugel bekundete ihr sein Mitgefühl, gab ihr aber zugleich zu verstehen, dass das Gesetz in diesem Fall machtlos war, weil ein Ehemann das Recht hatte, seine Frau zu vergewaltigen. Als Clara jedoch hinzufügte, dass George auch andere Mädchen vergewaltigte – deren Familien er Schweigegeld bezahlte und von denen mindestens eines gestorben war -, reagierte der Coroner angeblich mit großer Empörung und erklärte, dass es nur eine Möglichkeit gab: Sie mussten einen Mord inszenieren.
Ein Mädchen, das scheinbar tot war, musste in der Wohnung gefunden werden, die George für seine Gespielinnen unterhielt. Es musste so aussehen, als wäre sie von seiner Hand gestorben. Das war möglich, weil der Coroner
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