Mordkommission
Kapitalabteilung der Münchner Staatsanwaltschaft unterhält für ihre Beamten ebenfalls eine Rufbereitschaft
rund um die Uhr, und es ist üblich, bei Alarm den entsprechenden Kollegen zu verständigen. Der Jourstaatsanwalt – so die inoffizielle
Bezeichnung des Staatsanwaltes, der Bereitschaftsdienst hat – entscheidet danach, ob er sofort zum Tatort kommt oder ob er
es für ausreichend erachtet, am nächsten Tag über den Fortgang der Ermittlungen informiert zu werden.
Stellt sich ein Sachverhalt als zweifelhaft dar, ist also unklar, ob es sich tatsächlich um ein versuchtes Tötungsdelikt handelt
oder »nur« um eine gefährliche Körperverletzung, wofür die Mordkommission nicht zuständig ist, so entscheidet der Jourstaatsanwalt
bereits am Telefon, wie das Delikt nach vorläufiger Bewertung einzuordnen ist. Da die Staatsanwaltschaft als »Herrin des Ermittlungsverfahrens«
entscheidungsbefugt ist, erspart eine sofortige Kontaktaufnahme mit der Staatsanwaltschaft in vielen Fällen ein unnötiges
Ausrücken der Mordkommission.
In diesem Falle zog es der Jourstaatsanwalt vor, im Bett zu bleiben. Er bat mich lediglich darum, ihn am Morgen telefonisch
auf den aktuellen Stand zu bringen. Etwa dreißig Minuten später traf ich fast zeitgleich mit meinen beiden Kollegen am Tatort
ein. Schon bei der ersten Befragung des Überfallenen stellte sich heraus, dass die Täter versucht hatten, ihr Opfer in die
Bäckerei zu drängen, um so an das Wechselgeld in der Registrierkasse zu gelangen. Sie hatten in gebrochenem Deutsch mehrfach
Geld gefordert. Anhaltspunkte dafür, dass der Überfallene entführt oder gar getötet |33| werden sollte, fanden sich nicht. Mein erster »Ausrücker« stellte sich damit sehr schnell als sogenannter Abklärungsfall beziehungsweise
als »Abklärungsausrücker« dar.
Von einem Abklärungsfall spricht man, wenn nicht von vorneherein klar ist, ob überhaupt eine Straftat verübt wurde, und wenn
ja, welche Art von Delikt. Zu derartigen Abklärungsausrückern kommt es im Zusammenhang mit Todesfällen häufig, wenn die Todesursache
zunächst nicht eindeutig feststeht, etwa weil der Verstorbene erst nach Wochen aufgefunden wird. Stellen die Kollegen des
oftmals zuerst verständigten Kommissariates für allgemeine Todesermittlungen oder bereits im Vorfeld der Leichenbeschauer
»verdächtige« Begleitumstände fest, die auf ein Fremdverschulden hindeuten, wird die Mordbereitschaft verständigt und rückt
mit aus. Aber auch bei Suiziden oder Unfällen bestehen mitunter Zweifel daran, ob nicht jemand beim Ableben »nachgeholfen«
und anschließend den Mord entsprechend getarnt hat. In allen zweifelhaften Fällen wird daher zunächst von einem Tötungsdelikt
ausgegangen, um zu gewährleisten, dass mit der größtmöglichen Sorgfalt Spuren gesichert, Vernehmungen durchgeführt und Ermittlungen
getätigt werden.
Bei meinem ersten Abklärungsausrücker war der Sachverhalt eindeutig. Die weiteren Ermittlungen übernahmen daher die Beamten
des Kriminaldauerdienstes, die den Vorgang später an das Raubkommissariat abgaben. Rechtzeitig zum Dienstbeginn trafen wir
auf unserer Dienststelle ein, wo wir die Fahndungsmaßnahmen und Ergebnisse unserer Ermittlungen dokumentierten und weiterleiteten.
Zuvor hatte ich bei der täglichen Morgenbesprechung den Sachverhalt kurz vorgetragen. Die Morgenbesprechung bietet regelmäßig
Gelegenheit, alle Beamten zeitgleich über Einsätze, aber auch personelle, rechtliche oder organisatorische Neuerungen zu informieren.
Insbesondere die detaillierte Schilderung von Vorgängen, die die jeweilige Bereitschafts-MK übernommen hat, ist sehr wichtig,
da Hinweise bei jedem Beamten eingehen können.
|34| Ich bekam an diesem Tag einen ersten Vorgeschmack darauf, was es bedeutet, nach nur kurzem Schlaf aus den Federn gescheucht
zu werden und dann tagsüber normalen Dienst zu verrichten. Später erhielt ich mehrfach die Gelegenheit, meine persönliche
»Ermattungsmarke« auf bis zu maximal zweiundsiebzig Stunden Dauereinsatz zu schrauben. Danach – auch dies sollte eine neue
Erfahrung für mich werden – ist einem buchstäblich alles egal. Dann zählt nur noch, irgendwo eine waagrechte Fläche, leidlich
gepolstert, zu finden, auf der man, noch ehe man die Unterlage berührt hat, in einen komaähnlichen Tiefschlaf verfällt. Anschließend
dauert es dann – je nach Lebensalter – zwei bis vier Tage, bis man seinen
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