Mordlast
geschmacklos.«
»Sie haben ihn damit erwürgt.« Engbers stand auf und öffnete wieder das Fenster, das mittlerweile beschlagen war.
»Ich habe versucht, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Ich wusste, dass Sie mich früher oder später verdächtigen würden. Außerdem wollte ich, dass die Welt auf die Grausamkeiten aufmerksam wird, die sie mit einem Spielplatz übertünchen wollten.«
»Aber der Schmerz ist trotzdem geblieben«, sagte Davídsson.
»Er wurde noch schlimmer.«
21
Ó lafur Davídsson saß im Wohnzimmer und genoss mit geschlossenen Augen die Musik, die ihm ein ehemaliger Klassenkamerad aus Japan mitgebracht hatte.
Die klare und zugleich sanfte Stimme von Olivia Ong wurde von Jazzrhythmen durch die Wohnung getragen und an den großen Fenstern zurück in den Raum reflektiert.
Draußen erschien alles durch den weichen Filter einer Nebelwand. Die Umrisse wirkten zart, beinahe filigran. Sogar die brachialen Backsteingebäude jenseits des großen Innenhofes, die zum Teil schon lange eingestürzt waren und verwilderten und die dadurch sonst noch gewaltiger wirkten, hatten etwas Weiches.
Für Davídsson war es eine neue Musikrichtung. Er hatte bisher nie etwas für Jazz übrig gehabt und er wusste auch nichts über die junge Musikerin aus Singapur, die sein Freund bei einer Mission in Japan entdeckt hatte, als er für die Internationale Walfangkommission als isländischer Vertreter mit den verbündeten Japanern über den Walfang verhandelt hatte.
How Insensitive klang es aus den nahezu unsichtbaren Boxen links und rechts neben ihm.
Er hatte gelesen, dass das Werk eigentlich von Tom Jobim stammte, aber er fand, dass die weibliche Stimme die Gefühle besser transportierte. Sie ging unter die Haut. Er hatte das Original gehört, aber das hier war besser.
Manchmal muss man etwas verändern, um es noch besser zu machen, dachte er.
Der Fall war noch lange nicht abgeschlossen.
Nicht für ihn und nicht für die, die jetzt endlich etwas über das Schicksal ihrer Familienangehörigen erfuhren. In Österreich war die Ermittlungsmaschinerie unter Wallners Leitung erst angelaufen. Mit den Papieren, die sie in Bernd Propstmeyers Schließfach gefunden hatten, konnten die alten Fälle endlich aufgeklärt werden.
Aber wollte man das überhaupt?
Viele hatten es geschafft, mit der Vergangenheit abzuschließen. Neu anzufangen. Die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Alles wälzte sich durch diese Ermittlungen um, schuf sich neu und nicht jedermann war glücklich darüber.
Die Medien hielten sich mit der Berichterstattung zurück. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch, weil sie lieber den Klatsch aus dem Roten Rathaus verbreiteten.
Davídsson klopfte leise mit seinem Zeigefinger im Takt mit, der von einem Saxofonsolo vorgegeben wurde.
Er hatte den Prozess verfolgt, war selbst im Gerichtssaal gesessen, als Erich Colbert seine Geschichte wiederholte. Er wusste nicht, wie er in diesem Fall entscheiden würde. Zum Glück war er auch nicht in der Position, es zu müssen. Es gab keinen berechtigten Grund dafür, einem Menschen das Leben zu nehmen. Ihn einfach auszulöschen, als sei er nie existent gewesen. Aber manchmal war es verständlich, dass jemand dazu fähig war.
Er hatte Colberts Gesichtsausdruck gesehen, als dieser erfahren hatte, dass Bernd Propstmeyer nicht wie sein Vater gewesen war. Er war wie versteinert dagesessen, als Andreas Rach vor Gericht ausgesagt hatte, was seine Abteilung in den Papieren in Bernd Propstmeyers Atelier gefunden hatte. Die Spendenquittungen der verschiedenen Organisationen, die Entschädigungen an die Kriegsopfer ausschütteten und die Beweise dafür, dass er versucht hatte, sich bei allen Opfern seines Vaters persönlich zu entschuldigen.
Die KTU hatte Belege dafür gefunden, dass Bernd Propstmeyer ins Mürztal gefahren war und dort dafür gesorgt hatte, dass die Erinnerung an das Werk XII nicht verblasste. Allem Anschein nach war er auch nach Frankreich zu den Familien gefahren, die er mithilfe der Unterlagen ausfindig gemacht hatte, um sich bei den Kindern der Opfer persönlich zu entschuldigen.
Davídsson dachte an Lukas Propstmeyer und an den Sohn von Erich Colbert, die beide in der gleichen Reihe im Gerichtssaal gesessen hatten. Nur wenige Plätze voneinander getrennt. Hoffentlich setzt sich der Hass nicht bei dieser Generation fort, dachte er. Irgendwann muss das aufhören.
Die Musik begann erneut und Davídsson stand auf, um sich noch etwas zu Trinken
Weitere Kostenlose Bücher