Mordlast
Küste entlanggeschlendert, bekleidet mit leuchtenden gelben Regenmänteln. Von der Ferne musste es ausgesehen haben, als seien drei Hafenbojen ans Land gespült worden.
Einer ihrer Nachbarn hatte das einmal so seinem Vater erzählt und ihm hatte dieser Vergleich offensichtlich so gut gefallen, dass sie sich immer wieder darüber unterhalten hatten, wenn sie bei Regen ihren Weg an der Küste entlanggelaufen waren.
Draußen war es jetzt nahezu windstill.
Die wenigen Menschen, die auf der Straße an ihm vorbeiliefen, hatten Regenschirme aufgespannt und bewegten sich viel schneller als sonst. Es war, als hätte jemand den Schnellvorlauf eines Films eingeschaltet.
Davídsson dachte an die letzten zwei Wochen, die er selbst genau so erlebt hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, schneller zu leben als andere. Und intensiver.
Er war auf die Beerdigung von Iris Schrauder gegangen, hatte sich mehrmals mit Lukas Propstmeyer unterhalten, dessen Oma kein Wort des Trostes für ihn übrig hatte, und er hatte versucht, noch einmal mit Martina Krug über sein Leben zu sprechen.
Die Hitze war nach und nach verschwunden und in den Abendstunden konnte man bei angenehmen Temperaturen durch die Straßen flanieren, ohne dabei zu schwitzen.
Die Ermittlungen schienen dabei stehen geblieben zu sein. Es gab keine neuen Erkenntnisse, keine Entwicklungen oder neue Ansätze. Davídsson dachte über diesen Widerspruch nach. Über das Phänomen der unterschiedlich wahrgenommenen Zeit.
Wittkampfs Sekretärin riss ihn aus seinen Gedanken, als sie die Tür zu seinem Büro öffnete und alle Papiere auf einmal von seinem Schreibtisch abhoben und durch das Büro wirbelten, um schließlich wie Segel an einer anderen Stelle zu Boden zu schweben. Der Regen peitschte auf den Fußboden und einzelne Tropfen schossen bis auf den Flur, in den die Sekretärin erschrocken zurückgetreten war.
Davídsson schloss die Fenster und öffnete die zugefallene Bürotür wieder.
»Entschuldigung.«
»Halb so schlimm. Was gibt es denn?« Davídsson sammelte die Papiere zusammen, während ihm die Sekretärin immer noch etwas benommen zusah.
»Ein Herr Wallner hat angerufen. Er wollte Wittkampf sprechen, aber ich glaube, es ist für Sie.«
»Warum? Wer ist das?« Er verteilte die feuchten Blätter auf der Heizung und setzte sich anschließend auf seinen Bürostuhl, der auch etwas Regen abbekommen hatte.
»Es tut mir wirklich leid.« Sie machte eine kurze Pause. »Äh, ja. Herr Wallner ist vom österreichischen Bundeskriminalamt. Er sagt, dass er der Bezirksinspektor sei, der sich zurzeit um die Aufklärung von Naziverbrechen kümmern würde.«
»Bezirksinspektor?«
»So etwas wie ein Kommissar. Die Österreicher haben andere Dienstbezeichnungen.«
»Da spricht man die gleiche Sprache und wohnt so nah beieinander und es gibt doch gewaltige Unterschiede.«
Davídsson wusste tatsächlich so gut wie nichts über den Nachbarstaat, obwohl er schon einmal in Wien gewesen war, um sich die Stadt anzusehen. »Haben Sie seine Telefonnummer?«
»Ich wollte sie Ihnen gerade vorbeibringen, weil ich sowieso auf dem Weg in die Kaffeeküche war.« Sie gab ihm einen Zettel mit der Nummer und dem Namen.
»Bringen Sie mir einen Kaffee mit?«
Sie sah ihn mit einem Lächeln an. »Wenn Sie mir versprechen, die Fenster solange geschlossen zu halten, gerne.«
Davídsson streckte die Hand nach dem Telefon aus und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand. Er spürte eine leichte Anspannung in seinem Körper. Jetzt kam es ganz darauf an. Dieses Telefongespräch kann den Ermittlungsverlauf entscheidend beeinflussen, dachte er.
»Bezirksinspektor Wallner.« Davídsson hörte einen deutlichen Akzent, der ihm zuvor noch nie untergekommen war. Bisher hatte er nur ein sehr vages Bild von seinen österreichischen Nachbarn, das sich im Wesentlichen auf seinen Besuch in Wien stützte. Er dachte an seine isländischen Kollegen, die, als er nach Deutschland versetzt worden war, von Kuckucksuhren und Weißwürsten gesprochen hatten. Das war alles, was sie über Deutschland wussten.
»Ólafur Davídsson. Ich rufe vom Bundeskriminalamt in Berlin an. Sie hatten meinen Vorgesetzten, Herrn Wittkampf, angerufen. Ich rufe in seinem Auftrag zurück. Er befindet sich gerade im Urlaub.«
»Gut. Er hatte mir schon bedeutet, dass Sie mein Ansprechpartner wären.«
Davídsson nickte der Sekretärin zu, die die Kaffeetasse daraufhin auf dem Zettel mit Wallners Telefonnummer abstellte.
»Ich bearbeite
Weitere Kostenlose Bücher