Mordlast
einzuschenken, als das Telefon klingelte.
»Ja?«
»Ich komme gerade vom Gericht.« Es war Engbers. Im Hintergrund war Stimmengewirr zu hören.
»Sie haben gerade das Urteil gesprochen.«
»Und?«
»Du warst nicht da ...«
»Ich wollte nicht.« Davídsson hatte sich für die Urteilsverkündung freigenommen, war dann aber doch nicht hingegangen.
Wittkampf war wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt und hatte den Urlaub genehmigt. Er kämpfte darum, dass die Einträge der Innenrevision aus seiner Personalakte verschwanden.
»Sie haben ihn zu dreieinhalb Jahren verurteilt.«
Davídsson hörte, wie Engbers zusammen mit anderen Besuchern in einen Fahrstuhl stieg. »Das wird ihn noch härter werden lassen.«
Die Verbindung wurde schwächer, brach aber nicht ab.
»Er hat es gefasst aufgenommen.«
»Ja.«
»Und du bekommst jetzt den Wagen. Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen und er hat ihn zum Verkauf freigegeben.«
»Im Moment ist mir das nicht wichtig. Wie hat die Familie das Urteil aufgenommen?«
»Sie hatten wohl damit gerechnet. Lukas Propstmeyer war als Einziger von der Familie da. Die Schrauder und ihr Exmann haben sich nicht blicken lassen. Ich weiß nicht, wer von den beiden Jungs mehr leidet.« Engbers zündete sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug schnappte zu und er blies den Rauch ein paarmal gegen das Telefon. »Die Österreicher wollen jetzt mit den Franzosen eine gemeinsame Kommission einrichten, die die Kriegsverbrechen mit den französischen Kriegsgefangenen aufklären soll. Die Zeitungen in Österreich haben schon von den zweiten Nürnberger Prozessen geschrieben, hat mir Rach erzählt. Der hat noch Kontakt zu Wallner.«
»Ist das nicht etwas übertrieben?«
»Du weißt ja, wie die Presseleute so sind.«
»Ja.«
Davídsson betrachtete die Gebäude, die immer noch im Nebel verschwunden waren. Bei einem Luftzug wurden kleine Bruchteile wie die Spitze eines Eisbergs sichtbar. Dann verschwanden sie wieder in der weißen Masse.
»Was machst du jetzt?«, fragte Engbers. Seine Stimme hörte sich dumpf an. Auch er war vom Nebel eingehüllt.
»Ich glaube, ich fahre in Urlaub.«
»Nach Island?«
»Ich hatte an etwas Wärmeres gedacht. Jetzt soll Nizza ganz schön sein. Nicht mehr so heiß und überlaufen wie im Sommer und doch noch nicht so trist wie hier. Eine gute Mischung für einen Isländer, der weder das eine noch das andere wirklich mag.«
»Dort kann man gut die Vergangenheit ruhen lassen.«
»Die eigene oder die der anderen?«
Er sah Engbers stummes Grinsen vor sich im Nebel. Er kannte ihn mittlerweile – wusste, wie Engbers war. Er schätzte ihn als Kollegen und ahnte, dass das auch umgekehrt der Fall war.
»Wir haben alle schon für unsere Vergangenheit bezahlt«, sagte Davídsson schließlich.
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