MORDMETHODEN
liegenden Knochen von Grund auf neu errechnet werden, wie das Gesicht ausgesehen haben könnte. Doch wie kann das, ohne jede Spur von Weichgewebe, funktionieren?
Naturwissenschaftlich-medizinische Tabellen sind der Schlüssel zum Gesicht. Schon seit Jahrhunderten war Reisenden aufgefallen, dass es in verschiedenen Weltgegenden unterschiedliche Gesichtstypen gibt. Dazu zählten als besonders auffällige Merkmale beispielsweise die im Vergleich zu Europäern flacheren Nasen von Asiaten oder die dickeren Lippen von Schwarzafrikanern. Diese Merkmale werden schon seit langem vermessen und dokumentiert. Die teils auffälligen,teils unauffälligen Unterschiede im Körperbau tragen dazu bei, dass wir die ungefähre geografische Herkunft einer Person oft erahnen können. In neuerer Zeit werden nicht nur die Knochen, sondern auch das darüber liegende Weichgewebe – Haut, Fett, Bindegewebe, Muskeln – vermessen.
Entweder durch Einstechen von Messnadeln (bei Leichen) oder durch Röntgen oder Ultraschall (bei Lebenden) wird dabei eine größere Gruppe von Menschen bestimmter Herkunft untersucht. Zwar gleichen deren Gewebedicken zum Teil denen von Menschen anderer Herkunft. Oft genug unterscheiden sie sich aber auch. Die mittleren Unterschiede sind wichtig, wenn es darum geht, das Gesicht eines Schädels wiederherzustellen.
In Abbildung 4 sind zwölf wichtige Messpunkte dargestellt, die in einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 verwendet wurden. Dabei wird nicht nur von der Gesichtsoberfläche lotrecht auf den Knochen oder die Zähne, sondern auch schräg vermessen. Wichtig sind vor allem Bereiche, deren Gewebedicken erfahrungsgemäß besonders aussagekräftig für den Wiederaufbau eines künstlichen Gesichts sind.
Zwar gibt es bei all diesen Körpermerkmalen erhebliche Schwankungen. Doch ein Lieblingswerkzeug der Wissenschaftler hilft hier weiter: der so genannte Mittelwert, hier die mittlere Dicke des Weichgewebes über dem Knochen. Die bei vielen Menschen ermittelte durchschnittliche Dicke dieses Gewebes an verschiedenen Stellen über den Schädelknochen gibt einen ersten Anhaltspunkt für die Nachbildung des Gesichts.
Die Dickenwerte ändern sich mit dem Alter eines Menschen, besonders schnell bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind aber, wie gesagt, auch von der geografischen (und damit genetischen) Herkunft einer Person und deren Gesamtgewicht abhängig. Zum Glück erlauben die Knochenformen eines Skeletts zusätzlich grobe Aussagen über die geografische Herkunft, vor allem aber auch über Alter und Geschlecht. Inzwischen gelingt es beispielsweise, recht genau das Alter einerPerson mittels eines Röntgenbildes der Handknochen zu ermitteln. Ob eine Person schlank oder beleibt war, verrät das Skelett nicht.
In Kriminalfällen liegen nur selten reine Skelette vor. Bei verbrannten Leichen zum Beispiel ist zwar das Gesicht sehr stark entstellt, andere Körperbereiche sind jedoch oft weniger betroffen, als es zunächst scheint. Denn zum Körperinneren hin nimmt die hohe Temperatur, die bei Bränden an der Körperaußenseite herrscht, sehr rasch ab. Die Hitze wird durch das Fett und den hohen Wassergehalt menschlicher Körper abgeschirmt. Sogar Medizinstudenten sind verblüfft, wenn sie das gut erhaltene Herz und die übrigen unverbrannten inneren Organe sehen, die sich in einem äußerlich stark verkohlten Körper befinden können.
Wenn beispielsweise die Dicke der Oberschenkel ungefähr bestimmt werden kann, obwohl die Haut schwarz verbrannt ist, kann dies indirekt verraten, wie viel Körperfett eine Person im völlig zerstörten Gesicht angereichert haben mochte. Mit anderen Worten, das Skelett erlaubt oft Rückschlüsse auf die Ethnie, und die übrigen Weichteile sagen etwas über die Beleibtheit der zersetzten Person aus. Darauf und auf die durchschnittlichen Gewebedicken baut die Gesichtsnachbildung auf.
Schwieriger ist die Nachbildung von Lippen und Nase. Es gibt fast keine aus den Knochen ableitbaren Hinweise darauf, wie dick oder geschwungen diese Gesichtsbereiche einmal waren. Den Abbildungen 4 und 6 ist zu entnehmen, dass man auch diesem Mangel auf der Spur ist. Dort ist zu erkennen, dass die Entfernung der Lippen von der Zahnspitze vermessen und abgeleitet wird. Vielleicht werden weitere Messpunkte und schnellere Computer in Zukunft dabei helfen, noch bessere Hinweise auf die Form von Lippen und Nase zu gewinnen.
* Details dazu finden sich in allgemein verständlicher Form in Mark Benecke, Kriminalbiologie
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