MORDMETHODEN
und alle ohne Haare. Nun wurde es spannend. Die Anatomen zeigten insgesamt 37 Freiwilligen – alle aus dem medizinischen Lehrbetrieb – die 16 Bilder der nachgeformten Gesichter. Sie sollten die Nachformungen mit zehn Fotos von echten Gesichtern vergleichen. Meist waren unter diesen Vergleichsfotos auch solche der Personen, von denen die Schädel stammten, manchmal aber auch nicht. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Juroren durch Raten und Glück richtige Zuordnungen trafen.
Das Ergebnis war mehr als enttäuschend. In den fast 500 Versuchsdurchgängen, in denen ein Foto des echten Schädelspenders gezeigt wurde, kam es nur zu 38 richtigen Zuordnungen. Das wäre nicht weiter schlimm, denn auch eine nicht perfekte Ermittlungsmethode kann hilfreiche Hinweise geben. Im Fall der nachgebildeten Gesichter würde das heißen, dass ein modelliertes Gesicht zwar nicht von allen Zeugen erkannt wird, aber vielleicht von einem unter zehn. Auch das wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung.
Wesentlich unerfreulicher war allerdings, dass die Zeugen des Experiments in über 300 Fällen falsche Zuordnungen trafen. In mehr als zwei Dritteln dieser Fälle ordneten sie die Gesichtsnachbildungen auch dann irgendwelchen Personen zu, wenn die dazu passenden Fotos überhaupt nicht unter den Vergleichsbildern waren. Solche Irrtümer sind sehr problematisch, denn sie lenken die Ermittlungen eventuell in die falsche Richtung.
Die hohe Fehlerquote im geschilderten Laborversuch entsteht wohl dadurch, dass wir Menschen es gewohnt sind, in unserer Welt Ursachen mit Wirkungen zu verbinden – auch wenn sie unsinnig sind. Wir gehen davon aus, dass in einem Versuch oder Kriminalfall die gesuchte Person unter der uns vorgelegten Bilderserie sein muss, denn sonst hätte man uns die Fotos wohl nicht vorgelegt. Leider stimmt das nicht. Die Auswahl von Bildern hängt erstens vom Stand der Ermittlungen ab (ist die gesuchte Person überhaupt unter den Verdächtigen?) und zweitens von der Verfügbarkeit der Bilder (gibt es ein gutes, neueres Foto der gesuchten Person?).
Aus diesen Gründen fiel die australische Untersuchung so schlecht aus. Die Versuchspersonen konnten ohne die vertrauten Merkmale eines Gesichts – vor allem ohne die Haare – keine sinnvollen Zuordnungen treffen und verlegten sich daher aufs Raten.
»Insgesamt gelang nur jede 16. Gesichtserkennung besser als durch zufälliges Tippen«, schrieben die australischen Anatomen. »Daher dürften Gesichtsnachbildungen eine ungenaue und unzuverlässige Identifikationsmethode sein. Das widerspricht zwar den Einzelfallberichten, in denen Gesichtsnachbildungen bei Ermittlungen geholfen haben. Es lässt sich auch nicht mit den hohen Erfolgsraten vereinbaren, die Gesichtsrekonstrukteure angeben. Die scheinbar guten Einzelergebnisse bei Ermittlungen entstehen wohl dadurch, dass Fälle, die gelöst werden, wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhalten als die vielen Misserfolge. Diese werden gar nicht erst veröffentlicht.
Gesichtsnachbildungen sind zudem unwissenschaftlich, weil sie großen künstlerischen Freiraum lassen. Meist gibt es gleich mehrere Richtlinien und Methoden, nach denen ein Gesicht nachgebaut werden kann. Der Künstler kann sich dann frei entscheiden. Das ist eine weitere Fehlerquelle. Auch die Haartracht lässt sich nicht vom bloßen Schädel ableiten.«
Wenn das alles stimmt, dann verwundert es, dass Gesichtsrekonstruktionenüberhaupt noch angewandt werden. Ein Fallbeispiel soll verdeutlichen, warum die Laboruntersuchung der australischen Anatomen einen Haken hat. Dieser Haken liegt im wirklichen Leben.
Mord in Mannheim
Es ist Freitag, der 20. August 1993, ein schöner Sommertag. Einige Neugierige warten auf ein altes U-Boot. Es wird in ein Museum nach Speyer gebracht, und auf der Reise dorthin soll es vom Rheinufer nahe Mannheim aus zu sehen sein. Doch mit der Beschaulichkeit ist es schnell vorbei. »Lähmendes Entsetzen unter den Spaziergängern«, notiert der Mannheimer Morgen . »Im Maisfeld, 50 Meter südlich der Theodor-Heuss-Brücke in Mannheims Norden, liegt eine verkohlte Männerleiche. Sofort alarmieren die Erschreckten die Polizei.« Die Sehnen des toten Mannes sind durch Hitzeeinwirkung verkürzt, und so haben sich Arme und Beine zusammengezogen. Das Maisfeld ist rings um den Körper abgesengt, und auf dem Boden finden sich blutige Schleifspuren. Offensichtlich ein Verbrechen.
Die Stadt ist aufgeschreckt, ein Polizeihubschrauber kreist über dem
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