MORDMETHODEN
die neue Methode in der praktischen Polizeiarbeit bewähren würde. Daher mauerten sie erst einmal. Konnte man den lateinamerikanischen Ermittlungserfolgen, von denen seit 1891 voller Begeisterung berichtet wurde, überhaupt trauen? Und wie sollte man alle Informationen aus den Fingerlinien einheitlich darstellen, um sie vergleichen zu können?
Die Beamten waren derart misstrauisch, dass Paul Koettig, der Polizeipräsident von Dresden, eines Tages entschlossen handelte. Als ausgebildeter Kriminalpolizist wollte er nicht mit ansehen, wie eine ausgezeichnete Ermittlungshilfe im deutschen Behördenschlaf verkam. Daher verdonnerte er seine Leute am 30. März 1903 dazu, ab dem kommenden Tag Hautleistenabdrücke anzuwenden.
Der Erfolg stellte sich rasch ein. Bis heute sind Fingerabdrücke die häufigsten Tatortspuren; sie machen gut drei Viertel aller anfallenden Spuren aus. Und obwohl ein geisteswissenschaftlicher Theoretiker noch im Jahr 2001 mit großem Presseecho versucht hat, die Methode in den USA anzugreifen, bleibt es doch dabei: Der Fingerspurenvergleich liefert ausgezeichnete Sachbeweise.
Anders als vor 100 Jahren kann es heute geschehen, dass Kriminaltechniken zwar stürmisch begrüßt, aber schon kurz darauf wieder infrage gestellt werden. Vor allem in den USA hat man in den letzten Jahren gelernt, dass es oft besser ist, einer neuen Methode eine gewisse Entwicklungszeit zuzugestehen, bevor sie vor Gericht verwendet wird. Probleme gab es beispielsweise bei der Nachbildung von Gesichtern, aber auch bei genetischen Fingerabdrücken, wenn Wissenschaftler dieGrenzen ihrer Methoden falsch einschätzten. In Europa blieben uns solche Erfahrungen wegen der langsameren, schonenderen Umsetzung der Techniken erspart.
Aber auch jenseits neuer Kriminaltechniken können Ermittler unerwartet auf Granit beißen. Zeugenaussagen können beispielsweise derart von Erinnerungslücken, Fehlwahrnehmungen und Vorurteilen geprägt sein, dass sie kaum verwertbar sind. Umgekehrt kommt es vor, dass psychisch auffällige Menschen, deren Aussagen oft nicht ernst genommen werden, die einzig richtige Spur liefern. Deshalb soll das vorliegende Buch nicht nur Fortschritte in der naturwissenschaftlichen Kriminalistik schildern, sondern auch die seltsamen Wege zeigen, die alles Geschehen nimmt, was mit Menschen zu tun hat.
Denkgewohnheiten
Innere Einstellungen und Lebensgewohnheiten machten es früheren Forensikern schwer, neue Arbeitstechniken als brauchbar zu erkennen, etwa die schon erwähnten Fingerspuren. Es gab aber auch gesellschaftliche Zwänge, die ihnen bei der Aufklärung von Tötungsdelikten die Hände banden. Der Grund: Viele heute als kriminell angesehene Taten gehörten einmal zum normalen gesellschaftlichen Umgang. Es dauerte oft Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte, bis diese Gewohnheiten den Menschen fremd, falsch und grausam vorkamen. Ein Blick zurück soll das verdeutlichen.
So klang beispielsweise erst im 20. Jahrhundert die Tradition der Duelle endgültig aus. Noch Ende des 19. Jahrhunderts mussten sie in den deutschsprachigen Gebieten ausdrücklich – das heißt unter Androhung von Gefängnis oder Festungshaft – verboten werden. Doch die Verbote nutzten nur wenig.
»Nicht nur Offiziere und Studenten«, so Dr. Adolph Kohut im Jahr 1888, »sondern auch Politiker, Abgeordnete, Dichter, Künstler und Vertreter aller Berufsklassen greifen zum Säbel,zum Rappier oder zur Pistole, wenn die Frage der ›Ehre‹ in Betracht kommt. Es genügt oft eine unrichtig verstandene Äußerung, ein ironisches Lächeln, ein geringschätziger Blick, eine Meinungsdifferenz, und sofort sind gewisse Kampfhähne bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und dasjenige ihrer Nebenmenschen zu vernichten …«
Die Gewohnheit, sich zu duellieren, ging sogar so weit, dass selbst ausgesprochene Gegner des Duells sofort ihre eigenen, gegen das Duell gerichteten Lehren und Schriften vergaßen und zur Waffe griffen, wenn es plötzlich um ihre Ehre ging. Männer, manchmal auch Frauen, betrachteten die verlorene Ehre als ein im wörtlichen Sinne geraubtes Gut, so wie uns heute noch der Diebstahl von »Familienschmuck« schwer treffen kann. Eine Herausforderung zum Duell war die einzige als angemessen empfundene Chance zur Wiederherstellung des Verlorenen. Ein Beispiel dafür gibt das Duell zweier der berühmtesten Männer ihrer Zeit. Es hatte nicht nur einen irrwitzigen Anfang, sondern auch ein unerwartetes Ende.
Rudolf von Virchow gegen Otto von
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